Text: Peter Sandmeyer Fotos: Erich Wilts
Das kennt jeder: mit dem Finger über den Globus oder den Schulatlas streichen und auf den kleinen schwarzen Krümeln in der blauen Weite der Ozeane verharren. Wie mag es dort aussehen? Wer könnte dort wohnen? Heide und Erich Wilts wollten nicht nur träumen. Weit mehr als 200 entlegene Inseln haben sie in 36 Jahren betreten.
Vielleicht hängt alles mit dem Beginn ihrer Beziehung zusammen, der in einem Roman von Nicholas Sparks stehen könnte: Er, gutaussehender Geschäftsmann, liebt das Meer und die Küstenlandschaft; am Wochenende segelt er mit seiner Jolle vom Festland hinüber zur Insel und baut an deren entlegener Ostspitze sein Zelt auf. Sie arbeitet auf der Insel als Ärztin, träumt in der Nacht, dass ihr am nächsten Tag ihr zukünftiger Mann begegnen wird, ein Mann mit einem Boot; am Sonntag wandert sie im Bikini den Strand entlang und sammelt Muscheln; weiter und weiter entfernt sie sich vom Ort, läuft in die Einsamkeit – und begegnet dort ihm. Sie gefällt ihm, er gefällt ihr. „Haben Sie vielleicht Lust, ein Stück mit mir zu segeln?“, fragt er höflich. Sie denkt: „Er hat ein Boot!“ Es folgt ein kurzer Törn auf der Nordsee, bei dem alles schiefgeht, was schiefgehen kann. Er, verlegen und nicht ganz bei der Sache, fährt eine Patenthalse, sodass ihr der Baum gegen den Kopf schlägt, dann läuft das Boot auf Grund, er reißt intuitiv das Schwert hoch, ohne zu beachten, dass sie rittlings auf dem Schwertkasten sitzt; sie ist, als er sie endlich am Strand absetzt, blessiert und heilfroh, wieder an Land zu sein. Er hat inzwischen die Tide für die Heimfahrt verpasst, sein Boot fällt auf halber Strecke trocken, und es wird eine lange, unbequeme Nacht im Watt.
Es war der letzte schöne Sonntag im August 1969 und der erste Tag einer wunderbaren Partnerschaft. Er hieß Erich, stammte aus Lübeck und war 27, sie war ebenso alt, kam aus Stuttgart und hieß Heide, und seit ihrer Heirat heißen beide mit Familiennamen Wilts. Die Insel, auf der sie sich trafen, heißt Norderney. Sie war ihre erste gemeinsame Entdeckung. Seitdem sind weit mehr als 200 Inseln dazugekommen, von Jan Mayen in der Grönlandsee bis Deception Island in der Antarktis, von Scott Island im Rossmeer bis Midway im Archipel von Hawaii.
Seit 1976 segeln die Wilts mit ihren Schiffen „Freydis“, „Freydis II“ und „Freydis III“ über die Weltmeere, sie schreibt, er fotografiert. Die Eilande, die sie locken, sind nicht die, auf denen golfende Pensionäre ihren Altersruhesitz haben, sondern Archipele wie die Falklands oder die Antipoden – weit weg und wild.
Auch jetzt wollten sie eigentlich nicht in dem kleinen Haus in Heidelberg sein, wo das Gespräch mit ihnen stattfindet, sondern unterwegs. Mitte Mai 2011 sollte es losgehen; ihr Schiff wartete in Japan, eingewintert in einer Marina an der Ostküste, 100 Meilen nördlich von Tokio. Dann bebte am 11. März 2011 in Japan die Erde, und der Tsunami brach über die Marina herein. Die „Freydis“ wurde losgerissen, aufs offene Meer gesaugt und vier Meilen weiter auf die Klippen der Steilküste geworfen, 40 Kilometer entfernt von den geborstenen Reaktoren in Fukushima. Der Flug nach Japan und der Augenschein vor Ort ergaben: Das Schiff ist unrettbar verloren. Doch die Schockstarre der Eigner dauerte nicht lange. Keine drei Monate später kauften sie einen Schiffsrumpf aus Aluminium, den sie mit einer Werft zur „Freydis III“ ausbauten. Ende des Jahres geht es mit ihr in die Karibik. Die Wilts sind jetzt 70.
Was treibt sie? „Schwer zu fassen“, sagt Heide Wilts und überlegt. Dann: „Neugier, Wissensdurst, Abenteuerlust. Wir wollen Neues, Unbekanntes erleben, unsere Grenzen ausloten, unser Ich erfahren; es ist nur ein unbestimmtes Gefühl, das vielleicht sogar genetisch beeinflusst ist und das einen hinaustreibt in die Welt, in extreme Gebiete, zu fremden Gestaden. Es ist dasselbe, was Alpinisten auf Gipfel treibt. Aber schließlich sind viele Inseln ja nichts anderes als die Gipfel unterseeischer Berge.“
Es gibt, schreibt Judith Schalansky im einleitenden Essay zu ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“, eine „Faszination abgeschiedener Orte“, eine magische Anziehungskraft des schwer Erreichbaren. Ihr sind Heide und Erich Wilts seit 36 Jahren erlegen. „Eine Insel ist eine Herausforderung“, sagen sie, „je unerreichbarer die Insel, desto größer die Herausforderung.“
Selten ist die Insel eine Geliebte, die den Seefahrer nach harter Überfahrt mit offenen Armen willkommen heißt. Oft gibt es keinen Hafen, keine geschützte Ankerbucht, keinen Zugang, nur schroffe Felsen oder tückische Korallenriffe. Wem es aber gelingt, das alles zu überwinden, erlebt ein unerhörtes Glücksgefühl. „Man ist stolz, wenn man es geschafft hat“, sagt Heide Wilts. Glücklich „wie Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen“ fühlte sie sich inmitten von Pinguinen auf Macquarie, einem abweisenden Stück an die Meeresoberfläche gepresster Erdkruste zwischen Australien und der Antarktis; und auf den Bounty Inseln südöstlich von Neuseeland – „nirgends ein Baum, ein Strauch, ein Grashalm; ohne zu zögern würde man diese Eilande als den unwirtlichsten Ort auf Erden erklären“ – wird sie angesichts der vielen Seevögel und Robben „geradezu in Euphorie versetzt“.
Es ist der Traum jedes Jungen, dessen Finger über den Globus oder die Karten des Atlasses wandert und auf den schwarzen Krümeln in der blauen Weite der Ozeane verharrt. Wie mag es dort aussehen? Wer könnte dort wohnen? Welchen Tieren würde man begegnen? Und welches Leben würde man führen? Für die meisten bleibt es dann bei den Fingerreisen auf Globus oder Weltkarte.
Die Suche
„unverfälschte Natur mit reichem Tierleben“
Judith Schalansky hat ihrem Atlas den Untertitel gegeben „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Sie vertritt die Mehrheit. Aber für eine kleine Minderheit ist Fernweh ein ernsthaftes Leiden; sie muss tatsächlich los, den Ozean unter den Kiel nehmen und gucken, was es mit den schwarzen Krümeln in der blauen Weite auf sich hat. Dazu gehören die Wilts. Jeder neue Krümel löst Hoffnung aus, die Hoffnung, auf ein anderes Leben und eine verlorene Natur zu stoßen, ursprünglich, unverdorben, unverfälscht. „Wenn etwas völlig entlegen ist, kann dort noch nicht alles kaputt sein“, sagt Erich Wilts.
Diese Hoffnung lockte sie immer wieder in Bereiche, wo die Seekarte wegen fehlender Vermessungsdaten nur noch gestrichelt ist. 1981 segelten sie – noch ohne GPS und Radar – in die Antarktis; 1991 wollen sie dort sogar auf der unbewohnten Insel Deception, einem kollabierten Vulkankrater, überwintern. Bei einer Fahrt auf dem Kratersee werden sie von einem urplötzlich hereinbrechenden Orkan überrascht, sie erreichen ihren Ankerplatz nicht mehr, das Schiff wird vom Sturm aufs Land gedrückt und leck geschlagen, knapp können sie sich retten. Am nächsten Morgen liegt die „Freydis“ hoch und trocken an Land und hat sich in eine bizarre Eisskulptur verwandelt.
Sieben Monate harren sie aus im kalten Inselgefängnis von Deception, nie wird Heide Wilts die Dunkelheit, die Einsamkeit und die Angst vergessen; aber auch nie das eigenartige Farbenspiel am Himmel, den ersten Krillschwarm im Frühling, die Geburt der Robbenbabys und das Glück, als es gelingt, das gescheiterte Schiff Stück für Stück zu reparieren und wiederzubeleben.
Der Mensch, das lernt sie in diesem antarktischen Winter, ist „nur ein lebendes Wesen auf der Erde, das sich genauso durchschlagen muss wie alle anderen Kreaturen“. Der Mensch verändert sich durch solche Erfahrungen. Er wird mutiger und demütiger. Sieben Jahre lang treibt es sie dann rund um die Antarktis und zu fast allen Inseln an ihrer Peripherie. Als sie 1998 wieder an der chilenischen Küste mit Südkurs unterwegs sind, riskieren sie einen Vorstoß in das nur vage kartografierte Inselgewirr Feuerlands – und damit einen Verstoß gegen die Sicherheitsauflagen der chilenischen Marine. Sie haben es sich in den Kopf gesetzt, die Isla Noir zu erkunden, eine kleine Insel weit draußen vor der Küste, auf der sie wegen ihrer isolierten Lage das vermuten, was sie immer wieder suchen: „unverfälschte Natur mit reichem Tierleben“.
Die Gefahren
„Sturmgeheul, Hagelschauer, Hammerböen“
Dort, so sagt Erich Wilts 13 Jahre und viele Seemeilen später, habe er dann „eine der schlimmsten Situationen“ seines Lebens erlebt. Auf der Fahrt zur Insel entwickelt sich ein Sturm, der sich zum Orkan steigert; die auf der Seekarte nur angedeutete Ankerbucht erweist sich als Falle. Vor einer anderen Bucht, die mehr Schutz bietet, lauern gefährliche Untiefen, aber sie haben keine Wahl mehr, der Sturm ist stärker als ihr Schiffsdiesel, ihnen bleibt nur noch der Versuch, das Innere der Bucht zu erreichen, aber da kracht es auch schon, das Schiff hat sich auf eine blinde Klippe geschoben und sitzt fest. Zwölf Stunden reißt und rüttelt der Orkan an der bewegungsunfähigen „Freydis“. Mit dem Hochwasser der folgenden Nacht schwimmt sie zwar wieder auf, kann aber nur notdürftig mit Anker und Landleinen gesichert werden. „Sturmgeheul, Brandungsgetöse, prasselnde Hagelschauer und immer noch diese entsetzlichen Hammerböen, die unsere ‚Freydis‘ wie ein Spielzeugschiffchen auf die Seite packen.“ Zwei endlose Tage verbringen sie in dieser Lage an Bord, um nach dem Abflauen des Sturmes am dritten Tag fest zustellen, dass auf der ganzen Insel mannshohes Gestrüpp wuchert, in dem man keine 50 Meter vorwärts kommt. Sie fahren davon, ohne mehr von der Isla Noir gesehen zu haben als die Bucht, in der sie gefangen waren. Inseltraum und Inselrealität fanden nicht zusammen.
Ähnliches widerfuhr ihnen in Tristan da Cunha, jener kleinen Gruppe winziger Eilande im Südatlantik, auf halber Strecke zwischen Kapstadt und Buenos Aires. Nur die Hauptinsel ist bewohnt, die einzige Siedlung hat den Namen Edinburgh of the Seven Seas, und ihre Geschichte ist so lang und so abenteuerlich, dass dieses einsamste aller Eilande lange ein beliebtes Ziel für europäische Ausbruchsfantasien und Gesellschaftsutopien war. Im „Atlas der abgelegenen Inseln“ kann man nachlesen, dass selbst Arno Schmidt von einer „Siedlerstelle“ auf Tristan träumte, „so 20 acres; dicht neben der kleinen Funkstation; und ein Wellblechhüttchen von 80 Quadratmetern“ sowie einer ungekürzten Ausgabe des frühaufklärerischen Romans „Die Insel Felsenburg“ von Johann Gottfried Schnabel im Gepäck.
Vom Besuch auf Tristan versprachen sich die Wilts 1993 auf ihrer Fahrt von Feuerland nach Australien „einen Höhepunkt der Reise“. Bevor sie die Hauptinsel erreichen, ankern sie, erschöpft von stürmischen Wochen im Südpolarmeer, einen Tag in der einzigen geschützten Bucht weit und breit vor Nightingale, einem kleinen, unbewohnten Nachbareiland, Kinderstube von Sturmtauchern, Albatrossen und Pinguinen. „Was für eine Insel! Ein Stück Paradies!“, gerät Heide Wilts wieder ins Schwärmen. Was sie nicht weiß: Das Paradies steht unter Naturschutz, und als sie sich tags darauf auf Tristan anmelden, verweigert ihnen der britische Administrator den Zutritt. Grund: unerlaubter Landgang auf Nightingale. Trotz aller Bitten dürfen sie nicht an Land, dürfen auch keinen Diesel bunkern und ihre Vorräte nicht ergänzen, lediglich frisches Wasser wird ihnen gewährt und zum Schiff gebracht. Dann müssen sie ihren Anker aufholen und weiter segeln bis zum nächsten Hafen – 2770 Kilometer.
Dass dem Traum von einer Insel so brachial der Zutritt zu ihrer Wirklichkeit verwehrt wird, haben die beiden nie wieder erlebt. Die Korrektur des Traumes durch die Wirklichkeit aber oft. Besonders oft dort, wo die europäische Wahrnehmung dem Substantiv „Insel“ geradezu automatisch das Adjektiv „paradiesisch“ anheftet: in der Südsee. Die „elysischen“ Inseln der Seligen werden seit Stevenson und Gauguin gerne dort lokalisiert, wo sich Kokospalmen an weißen Stränden wiegen, vor denen das glasklare Wasser eines Atolls das immerwährende Blau des Himmels spiegelt. Der Mythos sei auch gar nicht falsch, sagen Heide und Erich Wilts, „es gibt solche Inseln, wir haben sie besucht“. 1996 beispielsweise lernen sie im Archipel der Cook Inseln ein Stück Südseeidyll kennen. Palmerston heißt es, ein Korallenatoll mit einer Lagune von sechs Meilen Durchmesser.
Als sie sich nähern, kommt ihnen ein Motorboot entgegen und lotst die „Freydis“ zum einzigen Ankerplatz der Insel. Sie treffen auf ein kleines Dörfchen, fröhliche Kinder, gastfreundliche Erwachsene, eine Gesellschaft, in der alles allen gehört; es gibt den Besuchern zu Ehren ein Festessen mit Thunfisch in Kokosmilch, Huhn, Reis, Salat und Papaya und Ananastörtchen. Und sie erfahren die Geschichte der Insel, die ein Abenteuerroman ist. Von James Cook entdeckt, von einem schottischen Pflanzer auf Tahiti erworben, vom britischen Schiffszimmerer William Marsters, der dorthin als Verwalter entsandt wurde, und seinen drei polynesischen Frauen besiedelt – alle 50 Einwohner der Insel stammten von ihm ab –, bildet Palmerston eine exotische Zeitkapsel. Heide Wilts notierte: „Durch ihre isolierte Lage ist diese 50 Seelen Insel, auf der es weder Flugplatz noch Telefon gibt und ein rascher Kontakt mit der Außenwelt nur über Funk möglich ist, eine wahre Schatztruhe polynesischer Kultur geblieben, in der Gastfreundschaft über allem steht.“
Drei Jahre später, 1999, besucht die „Freydis“ das Atoll noch einmal. Jetzt gibt es Internet, die Zahl der Yachten, die die Insel besuchen, ist auf über 50 hochgeschnellt, es gibt einen „Yachtclub“, wo man heißen Kaffee und kaltes Bier kaufen kann, Duschen und Toiletten sind in Planung, auch die Anschaffung von Tiefkühltruhen, um Fisch für den Verkauf lagern zu können. Zehn Jahre später werden den Südseetouristen SechstageTrips von Rarotonga nach Palmerston angeboten. Die Idylle hat den Markt entdeckt.
Paradiesisch erscheinen uns Inseln ja schon deswegen, weil sie Inseln sind. Nicht Kontinent, nicht Ozean, feste Ausnahmezustände in der flüssigen See, begrenzte Masse inmitten von weiter Leere. Ihre Uhren gehen anders, Zeit ist keine knappe Ressource. Das prägt auch Menschen, die auf Inseln leben. Ihre Heimat ist isoliert, unverbunden mit der Welt, einsam. Heide und Erich Wilts wurden Zeugen eines Wandels. Satellitentelefone und Satellitennavigation, TV, Internet und EMail haben die Isolation beendet. Nur unbewohnte Inseln sind noch unverbunden und einsam.
Die Gelassenheit
„Wir waren nie auf der Suche nach dem Paradies“
Im gleichen Tempo, wie die „Südseeparadiese“ ihren alten Zauber verloren, wuchsen die neuen Paradiese der exklusiven Resorts mit ihrem künstlichen Zauber: Man wohnt in luxuriösen Bungalows, die auf Stelzen in der Lagune stehen, das Frühstück wird im Auslegerkanu gebracht und auf Glastischen serviert, durch die hindurch man bunte Fische unter dem Bungalow beobachten kann. An solchen Plätzen aber hat man ein anderes Verständnis von Gastfreundschaft, wie die Wilts auf Tetiaroa nahe Tahiti feststellen mussten, der einstigen Privatinsel von Hollywoodstar Marlon Brando, die nach seinem Tod in eine Luxusanlage für zahlungskräftige Urlauber umgewandelt wurde. Die deutschen Segler wollten dort etwas trinken. Sie wurden nicht bedient.
Paradiesische Inseln? Inselparadiese? Je genauer die Wilts die Gesellschaft und Kultur einer Insel kennenlernten, desto fragwürdiger wurde ihnen solche Kennzeichnung. Selbst da, wo ein Eiland so abgelegen ist, dass es der Kommerzialisierung entging und viel von seiner traditionellen Kultur bewahrte wie die südlichste bewohnte SalomonenInsel Tikopia, fanden sie keinen Garten Eden. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft, auf den ersten Blick intakt, erweist sich auf den zweiten Blick als drakonisch und despotisch, der Freiraum des Einzelnen ist eng, die Selbstmordrate hoch. „Der paradiesische Land krümel“, so Heide Wilts, „kann zur Zwangsjacke werden.“ Es ist unsere, die europäische Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, die sich Projektionsfläche sucht. Es ist unser Traum vom ewigen Sommer und Windgeflüster in Palmenwipfeln, der dann auf eine Realität am Fuß der Palmen trifft, die einengend und bedrückend ist. Traum und Wirklichkeit finden nicht zusammen.
Wo lagen sie am dichtesten beieinander? Heide und Erich Wilts sind sich unschlüssig. Andere Frage: Welche unter allen besuchten Inseln wollen sie unbedingt wiedersehen? Er antwortet spontan: „Spiekeroog.“ Sie denkt eher an Südgeorgien. Aber die Erfüllung der Sehnsucht, das wissen sie, wartet weder hier noch dort. „Wir waren nie auf der Suche nach dem Paradies, genauso wenig wie auf der Flucht vor der Zivilisation.“
Doch es gibt Inseln, auf denen sie sich lebendiger und glücklicher fühlen als auf anderen. Galapagos gehört dazu, dieses fantastische Laboratorium der Evolution. Auch die baumlose Sankt-Lorenz-Insel inmitten der Beringsee, letzter Rest einer Landbrücke, die während der großen Eiszeit vor 20 000 Jahren Alaska und Sibirien verband. Erdgeschichtlich ist dies einer der spannendsten Orte unseres Planeten; hier lassen sich die Wanderungen von Mammuts und Menschen von Kontinent zu Kontinent und die erste Besiedelung der Neuen Welt nach vollziehen, und dennoch ist diese Insel ein weißer Fleck. Es gibt kaum Literatur, keine Unterlagen, selbst im Internet nur ein paar dürftige Zeilen, ein Ort für Entdecker.
Wenn sie all die Inseln, die sie besucht haben, Revue passieren lassen, zeigt sich, dass ihre Erlebnisse umso intensiver waren, je abgelegener und menschenferner die Plätze waren. „Nur an den noch relativ weißen Flecken unserer Erdkugel finden wir das, was wir wirklich suchen: ungebändigte Natur, reiches Tierleben und eine in ihrer Ursprünglichkeit belassene Landschaft.“ Da kommen Inseltraum und Inselwirklichkeit sich sehr nahe.
Absolut zur Deckung gekommen aber sind sie nur in einem Fall: der Isla Podestá, die zwischen den Osterinseln und der Isla Robinsón Crusoe liegt. Die Seekarte gab ihre Position an: Breite 32° 14′ S, Länge 89° 08′ W. Und es war die aktuellste Karte der britischen Admiralität, die Erich Wilts vor der Fahrt durch den Südpazifik 1997 besorgt hatte. Mit Tiefenlinien und Details war sie eingezeichnet: eine ovale Insel, 12,20 Meter hoch. Sechs weitere Seekarten bestätigten Existenz und Lage der Insel. Doch es gab sie nicht. Weder mit GPS noch mit Sextant war irgendein Krümel Land auf der angegebenen Position zu entdecken. „Und es war ein absolut windstiller Tag, ruhige See, kein Regen, kein Dunst, man konnte weit gucken.“
Isla Podestá gehört zur Liste der Phantominseln, die nach der vermeintlichen „Entdeckung“ eine manchmal erstaunlich lange Existenz auf den Seekarten führen, ohne je gesichtet zu werden. In ihrem Fall konnte die Realität der Insel den Traum von ihr nicht widerlegen.
Der Hamburger Autor Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, lernte die Wilts vor 21 Jahren in einem langen Funkgespräch kennen. Sie wollten 1991 in einer südpolaren Bucht überwintern, doch ihr Schiff wurde in einem Orkan an Land geworfen und verwandelte sich in eine Eisskulptur. Ihm gelang es, eine Verbindung zu den beiden herzustellen. Den Titel seines „Stern“- Berichts „Gestrandet in der weißen Hölle“ übernahm Heide Wilts später für ihr Buch über das Abenteuer. Judith Schalanskys Buch, das sich literarisch und bildlich erträumt, was Heide und Erich Wilts in Jahrzehnten in der Realität erfahren haben, ist 2009 im mare-verlag erschienen. Ihr mit etlichen Preisen ausgezeichneter bibliophiler „Atlas“ ist als Medizin gegen Fernweh inzwischen bestens bewährt.
Originalartikel:
mare No. 93, August/September 2012