Mittwoch, 23.12.2015, La Palma
Euphorie des Segelns
Rio
Wir haben uns im Yachtclub „Marina Gloria“ angemeldet (wegen des schmutzigen Hafenwassers unter Seglern auch als „Latrina Gloria“ bekannt). Dort liegen wir – wie das Schicksal so spielt – im Päckchen neben der amerikanischen Yacht „Northern Light“ mit Deborrah und Ralf und der deutschen Yacht „Santa Maria“ mit Wolf und Melanie auf der einen und der kleinen Yacht „Red Sun“ mit dem stets freundlich lächelnden japanischen Einhandsegler auf der anderen Seite. Alle Yachten sind rot gestrichen wie die Freydis. Und wie wir haben alle drei Yachten vor, in die Antarktis zu segeln. Gesprächsstoff gibt’s deshalb genug.
Für Hans Ulrich und Brigitte ist die „Kreuzfahrt“ hier zu Ende, sie fliegen nach Deutschland zurück. Aber Hans Ulrich wird ja bereits in vier Monaten, beim Start in die Antarktis, wieder auf der Freydis sein.
Unser Aufenthalt in dieser Stadt der berühmtesten Strände und des reichhaltigen Kulturlebens, wo für jeden Geschmack das richtige Erlebnis, der richtige Zeitvertreib und die richtige Freundschaft warten soll, ist leider fast ausgefüllt mit zeitraubenden, nicht immer erhebenden Vorbereitungsarbeiten für den nächsten Törn. Verstopfte Toiletten müssen auseinandergenommen und gereinigt, Waschbecken-Abflüsse mit langen Drähten frei gestochert, korrodierte elektrische Verbindungen und Stecker repariert, Bilgen und Kombüse gesäubert und Gasflaschen quer durch die Stadt zum Füllen und wieder zurück geschleppt werden und natürlich muß der Generator-Auspuff zum x-ten Male ausgebaut, geschweißt und wieder eingebaut und dann noch Proviant und Diesel gebunkert werden.
Aber es bleibt auch noch ein bißchen Zeit, um die Weltstadt Rio zu genießen – wenn man beim „genießen“ einmal von den vielen unschönen Dingen absieht, die einem hier auf Schritt und Tritt das Leben schwer machen: daß der Weg vom Yachtclub zur Straße, wo man ein Taxi zur Stadt anhalten kann, lebensgefährlich ist, weil dort Räuber und Mörder lauern (die Horrorgeschichten, die man sich im Club erzählt, sind nicht erfunden, auch unser japanischer Nachbar von der „Red Sun“ wurde am helllichten Tage mit Messern bedroht und ausgeraubt), daß man von Taxifahrern meist trickreich über´s Ohr gehauen wird, oder daß es für eine Frau alleine nicht möglich ist, abends gefahrlos durch die Stadt zu gehen. Obendrein finden in Rio bald Wahlen statt. Überall lautstarke Kundgebungen und Tonnen von Propagandazetteln, die von allen Wolkenkratzern über Straßen und Plätze flattern – viel schönes Papier aus dem Holz des bedrohten brasilianischen Urwaldes!
Nach etlichen Taxitrick-Irrfahrten schaffen wir es, am Abend mit der Zahnradbahn auf den 700 Meter hohen Corcovado hinaufzufahren, und der zauberhafte Blick, den wir von dort oben auf das nächtliche Rio haben, versöhnt uns ein wenig mit dieser Stadt der Superlative ( auch der negativen!). Wir bummeln sogar über ein paar Märkte und an den sagenhaften Stränden entlang, die leider – verdreckt, überlaufen, von Drogensüchtigen frequentiert und Kriminellen heimgesucht – nicht mehr erfüllen können, was die Welt noch immer von ihnen träumt.
Ab Rio beginnt im Hinblick auf Mannschaft und Art des Segelns ein ganz neuer Reiseabschnitt. Den Atlantik haben wir zu zweit überquert und an der Nordbrasilianischen Küste sind wir in zwei Etappen mit jeweils einem befreundeten Paar entlang gesegelt. Von Gran Canaria bis Rio war es mehr oder weniger Passatsegeln und Küstenschipperei. Von nun an sind Sport und Geselligkeit großgeschrieben. Der folgende Törn von Rio nach Mar del Plata – vier Wochen und 1400 Seemeilen – wird uns als einer der schönsten und sportlichsten, die wir in all den Jahren gesegelt sind, in Erinnerung bleiben.
Ilha Grande
Unsere neuen Mitsegler Heiner, Erhard, Gerhard, Roland und Toni sind auch nicht traurig, als wir diese Stadt zwischen Traum und Alptraum recht bald wieder verlassen. Als Einstimmung erwartet sie allerdings eine unangenehme Kreuz bis zur Ilha Grande, der Großen Insel, in der weiten, grünen „Bucht der Könige = Angra dos Reis“. Dort gibt’s für uns ein herzliches Wiedersehen mit dem österreichischen Funkamateur Peter Thürridl. Vor zehn Jahren hatten wir ihn auf dieser stillen schönen Insel am Wendekreis des Steinbocks kennen gelernt, wo er allein mit seiner Woll-Äffin Claudia auf seiner Facenda lebte und sich viele Stunden am Tag über Funk mit der ganzen Welt unterhielt. Peter, jetzt siebzig Jahre, ist noch ganz der „alte“: ein breitschultriger Hüne, empfindsamer Haudegen und gastfreundlicher Einsiedler, der unermüdlich Yachten über Funk begleitet und häufig hier in seiner Idylle Besuch von ihnen bekommt.
Seine Äffin Claudia, mit der wir damals so viel Spaß hatten, ist leider inzwischen gestorben. Der Tod dieses intelligenten und treuen Tieres ist Peter derart zu Herzen gegangen, daß er keinen Affen mehr haben will. Eine Perserkatze und ein Schäferhund geben sich derzeit alle Mühe, ihm den Affen zu ersetzen. Seine Facenda hat Peter gerade an ein betuchtes Ehepaar aus Rio verkauft, sich aber weiterhin das Wohnrecht darauf vorbehalten. Der einsame Palmenstrand, an dem wir damals so paradiesisch ungestört baden und ruhen konnten, ist auch veräußert worden: für viele Millionen Dollar an einen Hotelkonzem. Adieu Geheimtip, adieu Beschaulichkeit!
Parati
Unter Motor laufen wir durch die liebliche ruhige Bucht weiter nach Parati. Beim Anblick dieses einzigartig malerischen Städtchens, seiner hübschen Kirchen, Kolonialstilhäuser und des obligatorischen Forts, glauben wir uns plötzlich ins achtzehnte Jahrhundert versetzt. Und tatsächlich steht die ganze Stadt unter Denkmalschutz. Seit ihrer Gründung vor mehr als 250 Jahren, hat sich kaum etwas verändert.
Hier treffen wir unverhofft die „Santa Maria“ wieder, aber Rolf und Melanie haben es eilig und lichten bereits die Anker. Sie wollen nach Floreanapolis auf der Insel Santa Caterina und von dort einen Abstecher mit dem Auto nach „Blumenau“ machen, einer deutschen Einwanderer-Enklave, wo gerade das traditionelle „Oktoberfest“ stattfindet. „Oh ja“, lacht Toni, unser Bayer, „da wollen wir auch hin, ich hab für alle Fälle meine Krachledernen dabei.“
Auch die „Nele“ mit Wolfgang und Mia liegt hier. Vor drei Jahren hatte Wolfgang auf der Freydis einen Schwerwettertörn von Tromsö nach Leer mit gesegelt, um Erfahrungen für seine jetzige Reise mit dem eigenen Schiff zu sammeln. Die Nele ist ein solides Stahlschiff mit einer gut durchdachten, praktischen Inneneinrichtung. Am originellsten aber ist die Hundekoje für Stoops, den kleinen schwarzen Bordhund der Nele: eine kleine Hängematte, die Mia aus Relingnetz gebastelt hat.
Wolfgang und Mia halten sich schon seit vielen Monate in Brasilien auf, wo sie von Bucht zu Bucht gondeln. Parati und Umgebung hat es ihnen besonders angetan und im Städtchen, in dem wir gemeinsam Provianteinkäufe erledigen, kennen sie schon eine Menge Leute. Auch den katholischen Pater, der wie Mia aus der belgischen Stadt Mastrich stammt, und ihnen zuliebe am Sonntag von der Kanzel gepredigt hat, die Eingeborenen dürften um Gottes Willen keine Dingis von Yachten klauen. In dieser Hinsicht können also auch wir beruhigt sein, denn das Wort des Priesters gilt noch etwas in Parati. Beziehungen muß man halt haben in Brasilien!
Wir entscheiden nach Porto Belo zu segeln und nicht nach Floreanapolis, das kostet weniger Zeit, weil wir uns eine lange Hafeneinfahrt sparen. Draußen empfängt uns eine hohe Dünung, die uns jedoch, mit dem Wind im Rücken, kaum ärgern kann. Während die Freydis unter Spinnaker über die Wellen schießt, daß es eine wahre Freude ist, steht das Barometer unbeirrt auf „Hoch“ und vom wolkenlos blauen Himmel scheint eine warme, freundliche Sonne.
Porto Belo und Blumenau
Vor lauter Segelbegeisterung fällt Roland erst am Mittag ein, daß er heute Geburtstag hat. Aber es wird noch eine wunderschöne Feier, auch wenn der Wind hartnäckig die Kerzen ausbläst, der frischgebackene Schokoladenkuchen im Seegang von den Tellern hüpft und der Tee sich frei heraus über Tisch und Klamotten ergießt. Wen kann das schon stören an einem so herrlichen Segeltag? Von den Delphinen erhält Roland gratis eine Geburtstags-Vorstellung mit Saltos und Pirouetten. Und darauf folgt eine laue Vollmondnacht wie „Tausend und eine Nacht“ mit tausend Geschichten aus dem Seglerleben: Erhard erzählt von den Marquesas, Gerhard von Venezuela, Heiner von der kleinen Insel Ushant… und Romildo singt seine stimmungsvollen Lieder von der Kasette, die er uns zum Abschied in Camamu geschenkt hat. Die Seefahrer-Romantik ist perfekt. Heiner, das Kreuz des Südens am Himmel bewundernd: „Das sind die Sternstunden des Segelns!“
Am Morgen fällt der Blister ein, den wir in der Nacht gesetzt haben und die Delphine, denen wir zu langsam geworden sind, haben uns verlassen. Erst gegen Mitternacht schaffen wir es, mit Hilfe von Radar und GPS in Porto Belo einzulaufen, wo wir wenig später an der Pier des gut gepflegten Yachtclubs festmachen.
Das Städtchen Porto Belo liegt auf einer ins Meer hinausragenden grünen Halbinsel mit zahllosen geschützten Buchten und weißen Sandstränden. Etwa 70 Kilometer müssen wir mit dem Auto durch den Staat Santa Catalina bis nach Blumenau fahren. Hier im Süden Brasiliens, wo im Winter Temperaturen um Null Grad Celsius keine Seltenheit sind, suchen wir vergeblich nach tropischem Urwald. Und nicht nur die Vegetation hat sich grundlegend geändert, auch die Bauweise und der Menschenschlag, der uns in Aussehen, Lebensstil und Sprache – einem Mix aus vielen deutschen Sprachregionen – äußerst vertraut ist. Kein Wunder, denn die Leute hier sind überwiegend deutschstämmig: Zwischen 1824 und 1859 waren Hunderttausende verarmter Bauern aus Harz, Hunsrück, Schwarzwald und Böhmerwald dem Ruf von Dona Leopoldina von Habsburg, Gemahlin Pedros I. und Tochter von Kaiser Franz II. gefolgt und herübergekommen. Jeder von ihnen bekam ein Stück Land zugewiesen, machte sich ans Roden und bald entstanden im Küstengebirge weit verstreut liegende Höfe, Weiden und Felder.
„Oh du mein Zillertal, ich grüß dich tausendmal“, singt Erhard, als wir durch das liebliche Tal des Rio Itajai fahren. So ähnlich muß es auch dem Braunschweiger Arzt Dr. Herrmann Blumenau ergangen sein, als er 1850 mit einer Gruppe Auswanderer hierherkam und beschloß, in dieser Gegend die ersten Hütten zu bauen. In Blumenau, einer Stadt von ca. 150.000 Einwohnern kommen wir uns tatsächlich vor wie im Schwarzwald: überall Fachwerkhäuser, Restaurants und Hotels mit deutschen Namen – Himmelblau – Bauernhof – Bavaria – Hermann – viele blonde blauäugige Burschen in Lederhosen und Mädchen in Dirndelkleidern mit blonden Zöpfen! Es geht deutscher zu als in Deutschland und wir fühlen uns manchmal, als seien wir hier in unsere Heimat vor hundert Jahren zurückversetzt. Aber das ist ja nichts Ungewöhnliches, daß Menschen im Ausland die Sitten und Gebräuche ihrer Heimat besonders pflegen, um dadurch Bindung und Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten.
Natürlich besuchen wir auch das traditionelle Oktoberfest auf dem alle Besucher ganz gleich, ob Weiß, Schwarz, Indianer oder Mestize „Rosamunde“ oder „Im Himmel gibt’s kein Bier, drum trinken wir es hier!” singen und mit Tirolerhüten auf dem Kopf und Maßkrügen in der Hand eine Mords-Gaudi haben.
Iguazu
Und noch ein Abstecher von Porto Belo aus. Diesmal mit dem Bus, 24 Stunden quer durch Brasilien zu den größten Wasserfällen der Erde, von den Quarani-Indianern Iguacú, großes Wasser genannt, die wir sowohl von brasilianischer als auch argentinischer Seite besuchen. Diese Touristenattraktion, die über eine Million Besucher pro Jahr anlockt, wollen wir uns nicht entgehen lassen. Trotz der anstrengenden Fahrt dorthin und der kurz bemessenen Zeit – nur zwei Tagen gönnen wir uns dafür – erhalten wir unvergessliche Eindrücke von diesem tatsächlich einmaligen und grandiosen Naturschauspiel.