Leseprobe „Weit im Norden liegt Kap Hoorn“ (Heide Wilts)

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Leseprobe aus Kapitel 3 „Vorstoß in die Antarktis“:

Buch: Weit im Norden liegt Kap Hoorn (Band 1)

Am Nachmittag geht Freydis im Hafen von Montevideo an die Mooring. Nach Erledigung der üblichen Formalitäten sitzen wir noch bis spät abends im Terrassencafé des Yachtclubs und überdenken alles, was es in den nächsten Tagen zu erledigen gibt. Die Abendsonne erreicht unseren kleinen Tisch und gibt uns wohlige Entspannung. Wie lange würden wir wohl auf unserer weiteren Reise auf so friedvolle Stunden verzichten müssen? Diese aufkeimenden Sentimentalitäten werden jäh unterbrochen durch das Erscheinen von drei vollbepackten Gestalten in zünftigen Overalls – Thilo, Uli und Claus, die noch fehlenden Crewmitglieder, werden stürmisch begrüßt: Thilo, der Jüngste, studiert Gartenbau und ist leidenschaftlicher Bastler, was auch unserem Schiff schon häufig zugute kam. Uli hat gerade sein Medizinstudium beendet, und Claus kommt aus dem Verlagswesen. Alle drei sind erfahrene Segler.

Aber wo war unser siebter eingeplanter Mann, der Christian? Ausgerechnet am Abreisetermin mußte er wegen eines Leistenbruchs operiert werden und kann zu unser aller Bedauern die vor uns liegende Etappe nicht mitsegeln, doch er wird später in Chile zusteigen und dann mit uns beiden die Westküste Südamerikas entlangsegeln.

In aller Frühe geht es zum Segelmacher und dann zum Schmied, der das gebrochene Auspuffrohr schweißt. In einem Geschäft für Schiffszubehör besorgen wir uns endlich zwei neue Riemen für unser Dingi. Dann hasten wir zum Handelshafen, um ein Schiff mit dem Namen Polar-Queen zu suchen, das unter norwegischer Flagge in die Antarktis fahren soll. Bereits in Deutschland hatte Folkmar mit einigen Crewmitgliedern der Polar-Queen Kontakt aufgenommen. Wir haben großes Interesse daran, mit ihnen in Funkkontakt zu treten, da uns an möglichst vielseitigem Informationsaustausch liegt. Aber weder die zahlreichen Schiffsagenturen, die wir ansprechen, noch die deutsche Botschaft wissen etwas über den Verbleib des Schiffes.

An Bord wird unterdessen fieberhaft gearbeitet, um die Yacht wieder voll in Schuß zu bringen. Dazu gehören Inspektions- und Ausbesserungsarbeiten an der Maschine, am Hilfsdiesel, am stehenden und laufenden Gut sowie an der Windsteueranlage.

Die zahlreichen Segel, beträchtliche Mengen an zusätzlich gekauftem Proviant und die persönlichen Ausrüstungsgegenstände müssen so verstaut werden, daß sie griffbereit liegen. Zunächst scheint es fast unmöglich, Ordnung in dieses Chaos zu bringen, mit der Zeit findet aber doch alles einen festen Platz in den Schapps, in den Kunststoffkörben, die auf der nicht belegten Lotsenkoje festgelascht werden, in den Säcken an neuangebrachten Haken, in den Netzen und Schwalbennestern über den Kojen.

Sorgen machen wir uns um Thilos Seesack, der als einziges Gepäckstück der Crew nicht angekommen ist, und in dem sich auch unsere gesamte Post sowie ein für uns gebackener Weihnachtsstollen meiner Freundin befindet. Thilo hatte den Verlust bei seiner Ankunft sofort gemeldet und bestätigen lassen. Nun fragen wir täglich am Flugplatz und im Büro der Luftfahrtgesellschaft an. Aber wir erfahren nichts, was weiterhilft.

Die beiden Neuen, Uli und Claus, erwartet eine besondere verantwortungsvolle Aufgabe. Sie sollen vor dem Auslaufen eine Liste sämtlicher Sicherheits- und Seenot-Ausrüstungsgegenstände aufstellen. Das behagt den beiden gar nicht, zumal sie vom Rest der Crew nur sarkastische, nichtssagende Antworten bekommen.

Beleidigt machen sie sich daran, Freydis durchzuschnüffeln und alles auszuräumen, was nach Rettung und Sicherheit aussieht. Sie breiten ihre Fundsachen so übers ganze Schiff aus, daß bald jeder freie Platz belegt ist. Der Weg von Achterkammer zum Vorschiff wird zum Hindernislauf über Schwimmkrägen, Markierungsbojen, orangefarbene Flaggen, Signalpistolen, Nebelhörner, Lecksegel, Notsender und Feuerlöscher. Nach mehreren Stunden findet sich erstaunlicherweise wieder alles, wo es hingehört. Skipper Erich vergleicht die fertige Liste mit seiner eigenen auf Vollständigkeit. Dann werden in einer Crew-Besprechung diverse Notfälle und die Handhabung der jeweiligen Rettungsmittel durchgespielt.

Es gibt zwar viele Theorien über das Verhalten bei schweren Stürmen, doch allgemein gültig ist keine. Auch wir wissen nicht, was für uns in diesem Fall das beste sein würde: Unter Sturmbesegelung wie Moitessier vor dem Orkan und den Brechern dahinzujagen, oder beizudrehen, oder aber vor Topp und Takel mit ausgebrachtem Treibanker bzw. alten Autoreifen, die wir uns in Montevideo noch besorgt haben, zu lenzen. Jedenfalls liegt alles erforderliche Material griffbereit oben in den Backskisten.

Für den Fall, daß ein Brecher unser Deckshaus zerstören sollte, in das wir vor unserer Abreise noch einen starken Niro-Überrollbügel eingeschweißt hatten und dessen Fenster aus Spezial-Verbundglas bestehen, ist vorgesorgt: Einzöllige Teakbretter in Form eines Steckschottes riegeln im Ernstfall das Cockpit vom Schiffsinnern ab. Das wäre auch dann ein Vorteil, wenn Brecher das Cockpit vollschlagen würden und das eingedrungene Wasser nicht schnell genug durch die vier Lenzrohre abfließen könnte. Unsere große Sorge galt einer möglichen Durchkenterung, und wir verwendeten allergrößte Sorgfalt darauf, in diesem Fall den Schaden möglichst klein zu halten.

Die Möglichkeit einer Kenterung ist ja nicht nur eine Ausgeburt unserer schreckhaften Phantasie. Berühmte Beispiele sind die Tzu Hang mit den Smeetons, die auf der Route um Kap Hoorn zweimal durchkenterte, die Masten verlor und die Umrundung erst im dritten Anlauf schaffte, und auch die Ice Bird mit David Lewis, die dreimal durchkenterte und ebenfalls das Rigg verlor.

Wir arretieren unseren drehbaren Kiel mit einem starken Bolzen. Er soll verhindern, daß bei Kopfstand der zweieinhalb Tonnen schwere Kiel in den Schwertkasten fällt und das Schiff sich nicht wieder aufrichten kann. Der Mast war vor der Abreise zusätzlich mit Backstagen und einem Fockstag gesichert worden. Alle Entlüfter werden in Montevideo verschlossen, damit kein Wasser ins Schiff dringen kann. Sämtliche Schapps werden verriegelt, alle Bodenbretter kentersicher festgeschraubt, jede Koje bekommt zwei Gurte, um die Schlafenden zu sichern. Für den Fall eines größeren Wassereinbruchs haben wir mit drei großen Handlenzpumpen und je einer Impellerpumpe an der Hauptmaschine und dem auch mit Handkurbel anwerfbaren Hilfsdiesel vorgesorgt. Die Leistung einer Impellerpumpe beträgt 20 000 Liter pro Stunde.

In meiner Bordapotheke sind alle Medikamente wasserdicht in Folie eingeschweißt. Bisher immer stolz auf meine reichhaltige Ausrüstung, werde ich nun von Uli verunsichert, der mir ein „Trumm“ von Bohrmaschine zeigt, dessen Kopf er für zahnärztliche Zwecke umgebaut hat. Aus Angst vor „antarktischen Zahnschmerzen“ hat er sogar die 30 Kilogramm Übergewicht beim Fluggepäck in Kauf genommen.

Mit Folkmars Studienkollegen, Lutz Zornin, einem Uruguayer deutscher Abstammung, und seiner Familie, die wir schon in Deutschland unseren Freunden und Verwandten als Kontaktadresse angegeben hatten, machen wir am nächsten Tag einen Ausflug nach Punta del Este.

Dieses wohl modernste Seebad Südamerikas machte in neuerer Zeit politische Schlagzeilen: 1961 wurde hier auf einer inter-amerikanischen Konferenz die für die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas wichtige Charter von Punta del Este unterzeichnet, 1967 das Abkommen, nach dem bis 1980 ein gemeinsamer lateinamerikanischer Markt gegründet werden sollte.

Gar zu gerne hätten wir weitere Ausflüge in die Umgebung Montevideos gemacht, aber die notwendigen Arbeiten am Schiff gehen natürlich vor. Außerdem haben die Neuankömmlinge mit den Tücken der Nahrungsumstellung sehr zu kämpfen.

Die Stadt Montevideo selbst haben wir trotz der knappen Zeit recht gut kennengelernt, wozu uns die unzähligen mehr oder minder erfolgreichen Besuche in Werkstätten, Ausrüstungsläden und Supermärkten verholfen haben. Im Gegensatz zu den brasilianischen Städten wirkt Montevideo fast wie eine europäische Großstadt. Der Verkehr, besonders in den Hauptstraßen, ist trotz der wirtschaftlichen Probleme des Landes von nervenaufreibender Dichte mit einem Schuß südamerikanischer Unbekümmertheit. Ein gravierender Unterschied gegenüber Europa besteht allerdings: Nirgends sonst sieht man so viele Oldtimer, darunter wahre Schmuckstücke des Automobilbaus vergangener Jahre.

Am 21. Dezember ist Countdown vor dem Auslaufen. An Bord werden die letzten freien Stellen in der Kühltruhe und den Proviantschapps ausgefüllt. Für einige Wochen sind wir nun mit Nahrungsmitteln versorgt. An mir ist es jetzt, für möglichst rationellen Verbrauch der leicht verderblichen Nahrungsmittel zu sorgen.

Von Thilos Gepäck nach wie vor keine Spur. Aus unserer sehr reichlich mitgenommenen warmen Kleidung kann er trotzdem hinreichend ausgerüstet werden. Traurig ist es aber schon, daß wir nun keine Weihnachtspost erhalten, also auch keine Neuigkeiten von unseren Lieben zu Hause.

Dann endlich Leinen los. Mannschaften uruguayischer und argentinischer Nachbarschiffe winken mit Signalflaggen und blasen die Nebelhörner. Viele der anderen im Hafen liegenden Schiffe stimmen in die Abschiedszeremonie mit ein. Sie rufen von allen Seiten „Good luck, merry Christmas, hasta Luego, feliz Navidad“.

Bis Montevideo hatten wir sowohl nördlich wie auch südlich des Äquators sämtliche gleichartig verlaufenden Windzonen durchquert. Das ändert sich jetzt. Montevideo liegt in der Grenzzone zwischen den Roßbreiten und den westlichen Winden. Dieses Gebiet gilt als „ein Kampfplatz der subtropischen und polaren Winde“ („Handbuch des atlantischen Ozeans“, Band 2). Gefürchtet sind hier die „Suestados“, Stürme, die schnell und ganz unvorhergesehen aufkommen. Erste Kostproben hatten wir ja schon kurz vor Montevideo erhalten.

Im „Ocean-Passages of the World“ wird empfohlen, sich für die Fahrt zu den Falkland-Inseln möglichst weit westlich zu halten, wegen der auf der direkten Linie vorwiegend starken Westwinde. Die Hochdruckgebiete über dem Südatlantik als auch auf der anderen Seite des südamerikanischen Kontinents, die bei zirka 30 Grad Süd nahezu stationär liegen, und subpolare von West nach Ost ziehende Tiefdruckgebiete sind Ursache dieser starken Luftströmungen.

Bekanntlich dreht der Wind auf der Südhalbkugel im Uhrzeigersinn in ein Tief hinein: Beim Durchzug eines derartigen Druckgebietes ergeben sich somit Windrichtungen von Nordwest nach Südwest. Diese Winde führen besonders in der Falkland-Region oft zu schweren Stürmen mit hohem Seegang.

Die unmittelbar vor uns liegende Zone der La-Plata-Mündung ist berüchtigt für ihre zusätzlichen unregelmäßigen, starken Windströmungen. Wir entschließen uns – entgegen den Empfehlungen – zunächst einen östlichen Kurs einzuschlagen, um möglichst schnell vom Mündungsgebiet Abstand zu gewinnen. Erst dann laufen wir in südlicher Richtung weiter.

Wir wollen versuchen, unseren Zeitplan einzuhalten, der vorsieht, daß wir Anfang Januar die Falkland-Inseln wieder verlassen haben müssen, um spätestens Mitte Januar in der Antarktis zu sein. (Wie sich anschließend zeigte, hat sich dieser Zeitplan im Hinblick auf die späteren kriegerischen Auseinandersetzungen zusätzlich bewährt.) Auf diese Weise können wir hoffen, an Kap Hoorn vorbeizukommen, ehe die Sturmhäufigkeit dort allzusehr zunimmt. Zugleich bietet dies die Möglichkeit, das sturmreichste und gefährlichste Gebiet der Erde, die „Roaring Forties“ und „Furious Fifties“, möglichst schnell und senkrecht zur dort gewöhnlich herrschenden Windrichtung zu durchqueren.

Mit mäßiger Brise aus Südost segeln wir am Leuchtturm der Isla de Flores vorbei. In der Nacht dreht der Wind auf Nordost, dann auf Nord und danach Nordwest. Wir gehen drei Wachen von 00.00 Uhr bis 04.00 Uhr, 04.00 Uhr bis 08.00 Uhr und 08.00 Uhr bis 12.00 Uhr, die mit zwei Mann besetzt werden. Da ich Smut bin und daher wachfrei, fehlt auf einer Wache der zweite Mann. Hierfür springt aus den anderen Wachen jeweils einer umschichtig ein.

Der Wind läßt nach, wir wechseln von der Fock auf die Genua und später auf den Spinnaker. Seelöwen äugen aus dem Wasser, ein Albatros verfolgt schon lange unser Schiff; der Himmel ist den Tag über bewölkt, nur am Nachmittag scheint für zwei Stunden noch einmal kräftig die Sonne. Die Lufttemperatur beträgt 20°C, wie das Wasser. Die wachfreien Crewmitglieder liegen auf dem Deckshaus oder dem Vordeck und genießen die warme Sonne.

Der Wind frischt auf. Wir bergen den Spinnaker und baumen statt dessen die Genua aus. Auch am folgenden Tag bleibt der Wind gleichmäßig.

Heiligabend. Am Morgen klettern Erich und ich über unsere Kojen-Leebretter. Es duftet schon nach Kaffee. Draußen strahlender Sonnenschein und wolkenloser Himmel. In der Sonne kann man noch schwitzen. Wir befinden uns auf 37° 54′ Süd und 54° 58′ West. Den „Forties“ sind wir also schon sehr nahe. Wir rechnen mit einer baldigen Wetterverschlechterung und genießen daher diesen herrlichen Tag um so mehr. Ich setze mich zu den anderen ins Cockpit und lese „Magellan“ von Stefan Zweig – sehr anschaulich und für mich geradezu hautnah. Thilo und Folkmar montieren die etwas stärkere elektronische Steueranlage auf einen Holzsockel an der Steuersäule. Das Sägen, Bohren und Feilen verwandelt das Cockpit in eine Tischlerwerkstatt. Selbst Robis Freßnapf bleibt nicht verschont von Sägemehl.

Gegen 16.30 Uhr ist es Zeit, Funkkontakt aufzunehmen. Wir hören Ottos Stimme aus Ostfriesland und die von Peter aus Ilha Grande.

Wir geben unsere wichtigsten Botschaften durch, unter anderem, daß wir Christian in Puerto Natales erwarten werden statt in Punta Arenas, und daß unsere gesamte Weihnachtspost mit Thilos Seesack verlorengegangen ist. Zum Schluß spricht jeder persönlich seine Weihnachtsgrüße. Das Ganze wird von Otto auf Band aufgenommen und kann dann unseren Angehörigen vorgespielt werden.

Zur gemütlichen Teestunde zaubert Claus als Überraschung einen echten Weihnachtsstollen aus seinem Gepäck. Robi schleicht um die Angel und läuft miauend von einem zum anderen. Sie hat Hunger. Getrocknetes Katzenfutter aus Montevideo, angerührt mit Trockenmilch, lehnt sie als Festessen ab. Ich erbarme mich und öffne eine Dose Thunfisch. Kaum hat sie sich darüber hergemacht, als ein ausgewachsener Bonito als Weihnachtsbraten an die Angel geht. Robi frißt noch Herz und Leber und säubert dann genüßlich ihr Maul auf Claus’ frischem „Bunny-Hemd“, das er für besondere Gelegenheiten reserviert hatte.

Nach dem Abendessen, mit Käse überbackene Brote mit Tomaten, Cervelatwurst, Kapern und Champignons, dazu Mayonnaise, mixt Claus uns einen Drink aus Rum, Zitronensaft und Zucker mit geschälter Zitronenscheibe am gezuckerten Glasrand. Überwältigt von so hoher Barkeeper-Kunst wird die Stimmung immer ausgelassener.

Dennoch, verglichen mit der Frühzeit der christlichen Seefahrt, geht’s bei uns durchaus zahm zu. Am 7. Dezember 1768, über zwei Jahrhunderte vor uns, segelte Cook von Rio aus in den Süden, auf der Suche nach einem dort vermuteten Kontinent. Cooks Mitsegler Banks beschreibt die Weihnachtsfeier so: „Alle guten Christen – d.h. die Mannschaften an Bord – betranken sich fürchterlich, so daß es kaum noch einen nüchternen Mann auf dem Schiff gab; Wind Gott sei Dank sehr mäßig, was sonst aus uns geworden wäre, weiß nur der Herr.“

Auch bei uns reicht es zu einer beschwingten Bescherung. Ein großer Kiefernzapfen, der mit einer Kerze an der Spitze dekoriert ist, dient als Weihnachtsbaum. An die Zapfenblätter habe ich fünf kleine Geschenke aus Uruguay gehängt. Thilo hat für jeden etwas Hübsches aus Deutschland mitgebracht. Erich und ich bekommen Lesestoff, Folkmar eine Schiefertafel, damit er besser Navigationsberechnungen durchführen kann, Uli einen Mini-Zinnhumpen, damit er sein Bier nicht mehr aus der Dose trinken muß, und Claus eine kleine Windmühle, die sicher gute Arbeit verrichtet in den „brüllenden Vierzigern“. Uli, mit viel Watte in seiner Antarktis-Montur auf Weihnachtsmann getrimmt, verteilt reihum liebevoll eingepackte, kleine Geschenke aus dem täglichen Bordleben. Weise Reden und viel Spaß begleiten diese ungewöhnliche Bescherung. Wir sitzen noch lange im Cockpit zusammen und feiern unseren stimmungsvollen Heiligabend auf hoher See.

Weihnachten. Unsere Festtagsstimmung wird schon in der Frühe jäh gestört. Ein Bolzen der Lichtmaschinenhalterung ist gebrochen. Die Folgen: ein gerissenes Kabel und Kurzschluß in der Bordelektrik. Die Spezialisten sind gefordert. Folkmar, der Ingenieur, und Thilo, der Hobbybastler, reparieren mit viel Mühe die Schäden. Mittags wird die Arbeit nur kurz unterbrochen durch eine Festtags-Fischmahlzeit.

Ich sitze nach dem Essen wieder im Cockpit, mit Robi auf dem Schoß, lese Magellan und freue mich über einige Robben, die uns begleiten und mit Kunststücken unterhalten. Erst wenige Tage sind wir nun als Crew zusammen. Jeder bemüht sich, seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Noch ist keine Wolke zu sehen, die das Zusammenleben stören könnte. Wie sich die Crew unter widrigen Umständen verhält, wird sich wohl bald herausstellen, denke ich.

Nach unserer Mittagsposition, 41° Süd, 52° West, sollten wir bereits in den sogenannten „brüllenden Vierzigern“ sein. Statt dessen wechseln Totenflaute mit leise säuselnder Windstärke 2 ab. In den nächsten Tagen regnet es häufiger und bleibt trübe. Die Sonne schaut nur gelegentlich einmal hervor. Der Wind bläst aus Nordwest mit 4 bis 5 Beaufort. Wir kommen gut voran. Wassertemperatur 14°C, Lufttemperatur 17° C.

Thilo ist tagelang eifrig mit Klopfen, Hämmern und Sägen beschäftigt. Uli meint, wenn wir ihn drei Wochen allein auf dem Schiff ließen, würde er die Freydis sicherlich zum Dreimaster mit Festkiel umbauen. So bleibt es aber im wesentlichen dabei, daß die stärkere Selbststeueranlage endlich zum Arbeiten gebracht wird. Sie ist jedoch nicht nur stärker, sondern auch wesentlich lauter, und macht sich bei Unterhaltungen im Cockpit unangenehm bemerkbar.

Unser ostfriesisches Teestündchen wird – bisher jedenfalls – täglich pünktlich um 17.00 Uhr eingehalten. Der Tee wird natürlich auch jetzt auf hoher See mit Kluntje und Tubensahne serviert. Wahrscheinlich würde es eine Meuterei an Bord geben, wenn irgendwann auf der Route – die Gefahr besteht derzeit noch nicht, da Thilo Nachschub an Ostfriesen-Tee wohlweislich mitbrachte – die Vorräte an Kluntje, Ostfriesen-Tee und Tubensahne verebben sollten.

Uli, Thilo und Erich spielen lautstark ihre Skatrunden mit einem besonderen Blatt, das anstelle der üblichen Hofgesellschaft auf den Bildern Figuren aus einer „Dreigroschen-Opern“-Welt zeigt. Eine schwarzhaarige Ganovenbraut hat es Uli besonders angetan. Mit der „Schönen“ ziehen wir ihn noch häufig auf und trösten ihn damit, daß sie sicherlich auf den Falklands auf ihn warte.

Währenddessen flüchten wir übrigens öfter mit unserer Lektüre in die Messe. Mit Zweigs „Magellan“ bin ich fast zu Ende. Das Buch hat mir erst so richtig die Bequemlichkeiten unseres Bordlebens bewußt gemacht. Bei Folkmar und Claus, wie auch allen anderen, ist das ansteckende „Hornblower“-Fieber ausgebrochen. Gierig wird das vielbändige Werk Foresters von fünf Leuten gleichzeitig verschlungen.

Eine Nacht, ein Tag und wieder eine Nacht nichts als nervenaufreibende Flaute und schlagende Segel. Ein Albatros schwimmt wie eine Gans um unser Boot herum. Sonnenschein, Windstille und nur leichter Seegang sind das richtige für Robi. Sie spielt mit allen Tampen, die ihr in den Weg kommen. Besonders interessant findet sie es, wenn wir auf Proviantsuche gehen. Wie eine Schlange schlüpft sie zwischen die Dosen in die Schapps. Manchmal wird sie eingeschlossen. Dann zwängt sie sich entweder durch ein kaputtes Lüftungsgitter wieder heraus oder miaut kläglich bis zu ihrer Befreiung.

Mehrmals sehen wir die Umrisse großer Haie dicht beim Schiff. Beruhigend, daß unsere Freydis einen soliden Stahlrumpf hat und nicht ein gebrechliches Faltboot ist, etwa wie das von Franz Romer, mit dem er 1928 den Atlantik überquerte. Sein eigentümliches Segelfahrzeug bestand nur aus einem mit Gummihaut überzogenen Lattengerüst von sechs Meter Länge. Auf hoher See war er von Haien angegriffen worden. Nur heftigste Gegenwehr mit dem Flaggenstock rettete ihn vor den Zähnen dieser Biester.

Plötzlich, am nächsten Tag, Wind um 5 Beaufort. Wir setzen den Blister und machen gute Fahrt. Gegen Mittag nimmt der Wind weiter zu. Der Zeiger des Barographen sinkt in den Keller. Über ein Millibar Luftdruckabfall pro Stunde! Gewitterböen bis Stärke 9 und Regen fegen über uns hinweg. Unsere Selbststeuer-Anlage hat ihre Arbeit eingestellt. Wir haben sie zur Schalldämmung in zuviel Schaumgummi gepackt, und nun war sie heißgelaufen. Jetzt muß zunächst einmal die Crew bei dem üblen Wetter steuern und für den Unsinn büßen.

Die Lufttemperatur geht zurück. Sie beträgt nur noch 12° C, Wassertemperatur um 10° C. Die Zeiten für Wasch- und Plansch-Partien sind endgültig vorbei.

Silvester. Gegen Morgen weht böiger Südwest zwischen 6 und 8. Wir müssen gegenankreuzen. Der Wind hält den ganzen Tag an, nimmt sogar noch zu. Hoher Seegang hat sich aufgebaut. Was im Schiff nicht niet- und nagelfest ist, fällt krachend und scheppernd herunter. Es gibt nur noch Suppe und Eintopf.

Von unseren Funkerfreunden in Südafrika, Südamerika und Deutschland müssen wir daran erinnert werden, daß heute Silvester ist. Silvester auf den Falkland-Inseln, daraus wird leider nichts mehr. Der Barograph zeigt für die letzten eineinhalb Stunden wieder einen atemberaubenden Sturz an, noch bevor es richtig losgeht: 8 mit extrem langen, schweren Regenböen. Die „brüllenden Vierziger“ zeigen uns, daß sie ihren Namen nicht umsonst führen.

Um 24.00 Uhr MEZ denken wir an unsere Angehörigen und Freunde zu Hause und schlürfen, in viel Wolle gehüllt, im Cockpit einen fast alkoholfreien Drink aus Zitrone, Ananas und Pfirsichsaft aus der Dose mit einem kleinen Schuß Aquardiente. Uli meint nachdenklich, für diese Entziehungskur habe er nun so viel Geld ausgegeben. Aber, verschoben ist nicht aufgehoben. Wir werden eben etwas verspätet auf den Falkland-Inseln unsere Dreiliter-Super-Sekt-flaschen-Korken knallen lassen, das nehmen wir uns jedenfalls vor.

Windstärke 9. Regen und Hagel peitschen durchs Cockpit. Grobe See mit schweren Brechern und Kälte machen das Rudergehen in fast völliger Dunkelheit zu einer enormen Strapaze.

Kurz vor Eintritt in die „wütenden Fünfziger“ und dem Beginn der klassischen Kap-Hoorn-Umrundung, die von 50 Süd bis 50 Süd führt, fällt der Barographen-Anzeiger wieder in den Abgrund. 12 Millibar in 24 Stunden, und nach leichtem Anstieg erneut beängstigendes Abfallen. Ein gewaltiger Sturm aus Südwest mit Böen bis 60 Knoten verbunden mit sehr hohem Seegang machen ein Aufkreuzen nach Port Stanley zunächst unmöglich.

Sogar der Skipper ist seekrank und hat starke Kopfschmerzen. Sein Magen streikt. Er muß in die Koje. Kartoffelbrei und Kakao am Abend tun gut. In ihrer Not – anscheinend ist sie auch seekrank – frißt auch Robi davon. Sie liegt bei Erich und verschläft den ganzen Tag.

Wir haben noch niemals einen solchen Sturm erlebt. Doch Freydis schlägt sich so tapfer, daß unser Vertrauen in sie ständig wächst und damit gleichzeitig unser eigenes Selbstbewußtsein gestärkt wird. Prost Neujahr!

[…]

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