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Leseprobe aus Kapitel 9 „Alpinistische Akrobatik“:
Michael und Walter – unsere beiden Bordalpinisten und Kajakfahrer – wollen ihren Grönlandaufenthalt mit einer Eisbergbesteigung krönen. Dieser Höhepunkt ist schon lange geplant, sie sind aufs Beste vorbereitet. Die beiden haben eine komplette Ausrüstung für das Klettern im Eis mitgebracht und deshalb während unserer gesamten bisherigen Fjordfahrt nach einem geeigneten „Riesen“ Ausschau gehalten. Nun endlich, vor der mehrere Kilometer breiten Front des Gletschers Kanderluk, glauben sie, ihren Traumeisberg gefunden zu haben. Wohnblockgroß und blendend weiß liegt er da im spiegelglatten Wasser des Sundes, und so vertrauenerweckend stabil – wie für die Ewigkeit gemauert.Wir fragen uns zuallererst, ob er mit dem Ostgrönlandstrom in den Sund gespült und hier auf Grund gelaufen ist. Denn als alter Berg wäre er für eine Besteigung nicht besonders geeignet. Die fehlende Brandungskehle spricht aber eher für einen jungen, vom Gletscher gekalbten Eisberg. Zunächst drehen wir eine Runde um dieses „Kalb“. Es wird so stark von Treibeis umspült, daß die Freydis Mühe hat, voranzukommen.
Die Bedingungen für eine Besteigung scheinen ideal.
„Unser Eisberg“, so Michael später in seinem Tagebuch, „ist kein Berg, sondern ein kleiner Gebirgsstock mit einem etwa 50 m hohen, matterhornähnlichen Gipfel, zwei runden Vorgebirgen und einem kleinen See. 150 m sind es sicher von einem zum anderen Ende. Mehrere in Sonnenlicht getauchte Zacken lassen sprunghaft die Lust zum Klettern in uns wach werden. Eine kleine Bucht ist zu erkennen, von der aus ein Aufstieg aus dem Schlauchboot trockenen Fußes möglich sein müßte. Des Risikos waren wir uns voll bewußt, hatten uns eingelesen, wußten genau, daß bei einer Eisbergbesteigung Können allein nicht ausreicht. Erstmals – soweit ich zurückdenken kann – ging ich bewußt ein Risiko ein, von dem ich wußte, daß es nicht kalkulierbar war. Noch heute bin ich unsicher, ob sich Walter über diese Tatsache im klaren war. Wenn also das Risiko nicht auszuschließen war, konnte das Motto nur heißen: Reduzierung der Gefahr durch Schnelligkeit, Verkleinerung der Möglichkeit eines Unfalls auch dadurch, allein und immer nur allein auf ein solches Ding zu steigen.
Zu Hause hatten Walter und ich einen Plan gemacht, wie wir gemeinsam mit Seilen und Haken einen solchen steilen Riesen angehen wollten. Schon am Beginn unserer Reise, bei den ersten Begegnungen mit Eisbergen, habe ich diese Taktik dann in Frage gestellt und gegen Walters Meinung verworfen. Die neue Devise war: allein, schnell, optimal ausgerüstet. Allein heißt, daß immer nur einer auf den kenterbereiten Brocken steigt. Schnell heißt, seilfrei zu klettern, ohne Mätzchen rauf und so schnell wie möglich wieder runter. Optimal ausgerüstet bedeutet in diesem Fall, eine Kombination aus Bergsteiger, Taucher und Segler herzustellen, mit Eiskletterausrüstung, Trockentauchanzug und Schwimmweste. Wir wissen außerdem, so etwas machen wir nur einmal im Leben. Also muß es optimal klappen.
Soviel wir wußten, sind die letzten Eisberge 1933 erklettert worden, als Dr. Arnold Fangk, Film- und Skipionier, hier in Grönland Eisberge bestieg, um seinen Film „S.O.S. Eisberg“ zu drehen. Sein Buch gleichen Namens wurde Walter und mir zur Bibel und holte uns immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn wir gar zu euphorisch die Eisbergbesteigung planten. Und zur Frage des Risikos: Alles ist eine Sache der Statistik.“
Etwa 30 m vom Berg entfernt hält Erich die Freydis auf Beobachtungsposten. Michael macht sich an Deck fertig. Lustig sieht er aus in seinem schwarzen Tauchanzug mit der knallroten Schwimmweste darüber und der violett-blauen Mütze. Allerdings wirken Eisklettergeräte, Bergschuhe und Rucksack etwas deplaziert auf dem Vorschiff eines Seglers.
Wie vereinbart, will Michael als erster auf den Berg und versuchen, die höchste Spitze zu erreichen, dann wieder zum Vorgipfel hinabklettern und sich schließlich überhängend zum Wasser abseilen, wo ihn Folkmar mit dem Schlauchboot aufnehmen soll.
Kalle springt vom Bug aus auf eine größere Eisscholle neben der Freydis. Er will sich das Schauspiel von da unten aus ansehen. Klaus, der ebenfalls vorne steht, bleibt lieber an Bord. Als Fünfjähriger war er auf einer Eisscholle die Memel hinabgetrieben und konnte damals nur mit knapper Not von seinen Eltern im Paddelboot zurückgeholt werden. Er hat also schon schlechte Erfahrungen mit dem launischen Eis gemacht. Wir haben sie noch vor uns. Aber das wissen wir noch nicht.
Ich lege einen neuen Film in die Kamera und einen stärkeren Filter vor das Objektiv, da das von den Eiswänden reflektierte Sonnenlicht äußerst intensiv ist. Die Vorbereitungen für das Filmen nehmen mich derart in Anspruch, daß sie mir beinahe über das Unbehagen hinweghelfen, das mich schon während der Planung des Unternehmens immer wieder befallen hat. Um mich zu beruhigen, hat Walter mir von Michael erzählt: „Er ist immer stark motiviert für neue Erlebnisse, aber er geht kein Risiko ein. Er hat beim Bergsteigen schon zu viele Unfälle miterlebt, auch mit tödlichem Ausgang.“ Dieses Mal aber ist er – und das steht ja auch in seinem Tagebuch – seinem Vorsatz untreu geworden: Er geht ganz bewußt ein nicht kalkulierbares Risiko ein.
Nachträglich frage ich mich: Was ist damals nur los gewesen mit uns? Waren wir blind und taub? Das unheimliche Krachen, das explosionsartige Bersten und die schaurigen Kenterungen der Eisberge, die wir kurz davor miterlebt hatten, waren das noch nicht genug Warnungen?
Doch Folkmar und Michael legen jetzt ab. Nach etwa fünf Minuten sind sie drüben in der Miniaturbucht angelangt. Zwei Minuten später fährt Folkmar wieder aus der Bucht. In 30 m Abstand vom Berg bleibt er abrufbereit liegen. Rasch hat Michael mit seinen Klettergeräten die erste kleine Steilstufe überwunden. Ohne Pause erklettert er den vielleicht 50 Grad steilen Hang bis zum leicht überhängenden Vorgipfel. Meine Kamera surrt, die Fotoapparate klicken. „Wahnsinn“, höre ich Erich leise sagen, „einfach Wahnsinn.“ Das Schwarz des Tauchanzugs und das Rot der Schwimmweste heben Michaels Gestalt scharf von der leuchtend weißen Wand ab. Die Atmosphäre gleicht der bei einer Hochseilnummer ohne Netz unter einer riesigen weißen Zirkuskuppel. Atemlos vor Spannung verfolgen wir jede Bewegung Michaels. Er steigt ohne Seil, ohne Sicherung. Jeder Fehler wäre eine Katastrophe. Ein Sturz aus 40 m Höhe ins Wasser ist wie ein Fall auf Beton.
Dann kommt das letzte, schlimmste Stück: die etwa zehn Meter hohe senkrechte Wand, die zum Gipfelgrat 50 m über dem Wasser führt. Die Zacken von Michaels Eiskletterschuhen und sein Pickel krallen sich ins Eis. Zug um Zug gewinnt er Höhe, bis er schließlich ganz oben steht und uns lachend zuwinkt. Aber er läßt sich keine Zeit, diesen Erfolg zu genießen. Sofort klettert er wieder zum Vorgipfel zurück und hämmert dort einige Spezialhaken tief ins Eis. Dann beginnt das Abseilen vom Überhang. Wenige Sekunden dauert es nur, ohne Wandberührung schwebt Michael unter dem Eissims abwärts. Folkmar, der mit dem Schlauchboot schon direkt unter ihm wartet, nimmt ihm die Steigeisen ab. Dann steuern die beiden auf die Freydis zu. Schweißgebadet in seinem Trockenanzug, aber glücklich lachend kommt Michael mit Folkmar an Bord. Die Nervenprobe ist bestanden. Wir sind begeistert, umringen ihn und applaudieren.
Daß Michael gerade eine große bergsteigerische Leistung vollbracht hat, ist uns allen klar. Die Gefahr, in der er dabei schwebte, wird uns aber erst später bewußt.
Walter steht quasi schon in den Startblöcken. Auch für ihn, der erst vor drei Jahren durch seinen Freund Michael zum Bergsteigen kam, bedeutet dieser Eisklotz eine enorme Herausforderung. Michael richtet ihm noch etwas am Brustgeschirr, er ermahnt ihn, nur bis zum Vorgipfel zu gehen, und kritisiert, daß er keine Schwimmweste angelegt hat. Walter lacht nur, reißt einen Witz, gibt sich betont ruhig. Er steigt zu Folkmar ins Dingi, und sie fahren wieder zum Berg.
Kalle, von seinem Schollenausflug zurückgekehrt, steht nun am Ruder, um die Freydis auf der Stelle zu halten. Meine Kamera ist wieder einsatzbereit. Noch einmal werde ich Gelegenheit haben, die Abseilszene zu filmen. Denn ausgerechnet, als Michael vom Berg schwebte, war mein Film zu Ende gewesen. Deshalb bin ich eigentlich recht froh, daß auch Walter den Berg angehen will. Andererseits regt sich wieder eine dumpfe Angst in meiner Magengegend. Aber Michael beruhigt mich: „Der Walter ist genauso vorsichtig wie ich. Und das Eis ist hervorragend, fest und griffig, es wird gutgehen.“
Das Dingi hat die kleine Eisbucht erreicht, die jetzt aber im Schatten liegt. Der Eisberg muß sich also in der Strömung ein wenig gedreht haben. Seltsam: Auch diesem Warnzeichen haben wir keinerlei Beachtung geschenkt, es kaum wahrgenommen. Hat die Sorge um die uns noch unbekannten Kletterkünste Walters unseren Blick für die doch bekannte, viel größere Gefahr vernebelt?
Den ersten Sockel hat Walter hinter sich. Auf dem Plateau am kleinen See verharrt er kurz, richtet Eisgeräte, Karabinerhaken, Sicherungsschlingen für den 50 Grad steilen Eishang. „Schneller, Walter, schneller“, mahnt Michael. Er sagt es leise, eher zu sich selbst. Jetzt ist er nicht mehr so cool, wie wir ihn kennen, er hat Angst um seinen Freund. Walter klettert am Steilhang aufwärts. Wenig später steht er oben auf dem Vorgipfel. Auch er hat souverän sein Ziel erreicht. Einige Schritte tiefer liegt der Abseilplatz.
Michael ruft Anweisungen hinüber, wie das Seil einzuhängen sei. Wieder ist er unruhig, die Vorbereitungen für das Abseilmanöver dauern ihm zu lange. Ich dagegen fühle mich schon aller Sorgen ledig und habe gerade noch Zeit, einen neuen Film einzulegen, da seilt Walter sich schon ab. Er schwebt hinunter, pendelt wie vorhin Michael frei unter dem Überhang und sitzt gleich darauf bei Folkmar im Dingi.
„Geschafft!“ Wir sind alle erleichtert und jubeln. Jetzt kann nichts mehr passieren. Problemlos ist der Eisberg ein zweites Mal bezwungen worden. Ich habe meine Abseilszene im Kasten. Es gibt nichts mehr zu fotografieren und zu filmen. Wir legen die Kameras beiseite. Die Akrobatennummer ist zu Ende, denken wir – und werden von dem, was nun folgt, völlig überrumpelt.
In den nächsten Minuten verwirklichen sich unsere schlimmsten Alpträume. Wie aus einem Horrorfilm entsprungene, gespenstische Bilder sind in meiner Erinnerung haften geblieben: Der Berg neigt sich fast lautlos vornüber. Die 50 m hohe Steilwand, an der sich Walter eben noch abgeseilt hat, versinkt in den Fluten. Es knallt und dröhnt, dann bricht der Gipfel, auf dem Michael gestanden und uns zugewinkt hat, wie abgesprengt herunter und zerschellt auf dem Wasser.
„Wo ist Folkmar? Wo ist Walter?“ schreit jemand. Sie müßten eigentlich längst wieder zur Freydis zurückgekehrt sein. Ich habe das Dingi noch kurz zuvor hinter dem Berg verschwinden sehen und mich gefragt, ob sie wohl eine Ehrenrunde drehen wollen. Und jetzt sind sie von den herabstürzenden Eismassen begraben, von dem drehenden Berg in die Tiefe gerissen worden! Unheilvoll schaukelt der weiße Koloß in dem milchig-grünen, aufschäumenden Eisbrei.
Dann sehen wir das Schlauchboot, aber nur mit Folkmar. Wie die offene Schale einer Riesenmuschel hängt die Eiswand über ihm, droht ihn in einer Falle zu fangen. Ein grauenvoller Anblick! Spätestens jetzt wissen wir, daß es hier um Leben oder Tod geht. Aber auch Folkmar sieht die drohende Wand und gibt Gas. Der Außenborder heult auf; durch brodelndes Wasser prescht das Dingi aus dem Bereich des kenternden Eises.
Wo aber ist Walter geblieben? Während uns die schlimmsten Befürchtungen durch den Kopf schießen, sehen wir den Eisüberhang verharren, drei Meter über dem Wasser bleibt er wie festgezurrt stehen und pendelt dann langsam zurück. Die Falle ist nicht zugeschnappt. „Dort!“ Michael hat die Sprache wiedergefunden. „Dort, der schwarze Punkt, das muß Walter sein!“
Der Kopf im Wasser ist deutlich zu erkennen. Folkmar braust sofort darauf zu. Jetzt droht die flache Eisschüssel wieder auf die beiden herabzustürzen. Wir sehen, wie sich das gelbe Schlauchboot mit Folkmar von dem schwankenden Eisdach entfernt, und hören Michaels beschwörende Worte: „Walter muß dranhängen. Sie werden es schaffen, Folkmar wird es schaffen.“
Walter liegt im Boot, als Folkmar an der Freydis festmacht. So sieht wohl jemand aus, den gerade der Blitz getroffen hat, denke ich, als ich seinen Gesichtsausdruck erkenne. Er ist pudelnaß, aber der Anzug hat ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Handknöchel sind ein wenig aufgeschürft, sonst fehlt ihm nichts. Nur die Witze, die er reißt, als er an Bord klettert, klingen schal, und wir alle bleiben still, können nicht darüber lachen.
Ein Stück weiter wälzt sich immer noch der Berg wie ein riesiges Untier in seinem Eisbrei. So lange wir ihn später sehen können, wiegt er sich langsam rhythmisch hin und her – wie die Unruh einer riesigen Uhr, die beinahe Walters letzte Stunde geschlagen hätte.
Das ganze Unternehmen, von der Wahl des Eisbergs bis zu Walters glücklicher Rettung, hat alles in allem drei Stunden gedauert – drei Stunden, nach denen wir fix und fertig sind. Unter dem Stichwort „Manöverkritik“ versucht Michael später, das Geschehen in seinem Tagebuch sachlich und kühl zu analysieren: „Nach dem bestandenen Abenteuer meinte Sepp an Bord, daß uns der Eisberg unsere Grenzen gezeigt habe. Er hatte unrecht. Wir wußten um die Risiken, hatten sie einkalkuliert, stützten uns auf die Statistik und die Wahrscheinlichkeit. Wir waren Hasardeure, doch das Hasardspiel war uns bewußt.
Was war passiert? Walter hatte versucht, ein zweites Mal den Berg zu besteigen, um zurückgelassenes Material zu bergen. Karabinerschlingen und Eishaken im Wert von 80 Mark waren der Beweggrund für dieses Risiko. Was ihm passierte, hätte mir genauso passieren können. Der Unterschied? Walter stieg vom Dingi aus nochmals auf den Berg – oder wollte es zumindest versuchen. Da kenterte die riesige Eismasse. Walter, noch am Anfang, wurde unter Wasser gedrückt. Wie tief, weiß er nicht mehr. Er löste seine Eisgeräte geistesgegenwärtig und wurde vom Trockenanzug nach oben getragen. Das Glück war, daß die Falle nicht zuschnappte, daß die Hohlkehle des Eisüberhangs nicht durchkenterte und den Kletterer erbärmlich ersäufte – und daß Folkmar im rechten Moment die richtigen und kühnen Entscheidungen traf.
Die Statistik war diesmal auf unserer Seite. Doch ebenso, wie man im Leben einen Lotto-Sechser haben kann, kentert auch mal ein Eisberg, wenn man ihn besteigt. Doch was wäre passiert, wenn sich der Winkel im senkrechten Kletterstück, wo die Steigeisen nur millimetertief eingeschlagen waren, um wenige Grad zum Überhängenden hin verändert hätte? Wir wären aus der Wand gefallen wie Steine!
Den Eisberg wird es wahrscheinlich nicht mehr geben. Vielleicht gelang es ihm, aus dem Sund herauszukommen, mit dem Grönlandstrom nach Norden zu ziehen und mit dem Labradorstrom wieder nach Süden zu segeln. Für uns hat sich ein Pubertätstraum erfüllt. Es ist gutgegangen, haarscharf. Der wahre Held ist Folkmar, er war Spitze. Wir tauften deshalb den Eisberg nach alter grönländischer Manier „Folkmars Toppen“.“
Am Abend schon wieder einigermaßen von unserem Schock regeneriert, legen wir voller Erwartung an der Radio-und Fernsehstation am Ausgang des Prins-Christian-Sundes an. Dies soll unser vorläufig letzter Grönlandaufenthalt sein, da wir von hier aus zunächst nach Island segeln wollen. Die beiden Dänen, die uns am Vortag auf der Freydis besucht haben, stehen an der Pier, um uns willkommen zu heißen. Auch die beiden Schlittenhunde, die sie bei sich haben, scheinen sich über unseren Besuch zu freuen.
Auf der Station erwarten uns kühle Drinks und heiße Duschen. Allerdings erst, nachdem wir die 400 Stufen einer hölzernen Himmelsleiter bewältigt haben, die auf Pfählen einen steilen Felshang zur 200 m höher gelegenen Station hinaufführt. Wegen der Schnee- und Eismassen im Winter und des vielen Regens im Sommer stehen auf solchen Pfählen auch die Brücken, die oben auf dem kleinen Felsplateau die im Viereck angeordneten Containerhütten mit Aufenthalts-, Arbeits-, Schlaf-, Eß- und Sanitärtrakt untereinander verbinden. „Hells Corner“, Höllen-Eck, heißt dieses kahle Felsennest nicht zu Unrecht, denn besonders im Januar und Februar sollen hier Stürme mit 100 Knoten und mehr Windgeschwindigkeit toben.
„Marilyn Monroe“, die kesse weiße Hundedame, entwickelt große Sympathien für Kalle, der nach den Tagen auf See Freude an der Bewegung hat und stundenlang mit ihr herumtollt. „Blacky“, der schwarz-braune, schon recht betagte Rüde, steht dem Treiben der Jugend eher gelassen gegenüber und trottet immer nur brav hinter der forschen Marilyn her. Einen Schlitten haben die beiden noch nie ziehen müssen. Als Maskottchen der Station haben sie es besser getroffen als die anderen, echten Schlittenhunde Grönlands, die den ganzen Sommer über angekettet vor den Häusern liegen müssen.
Nach dem Hochgenuß einer heißen Dusche sitzen wir noch bis spät in der Nacht mit den fünf dänischen Stationsangehörigen, welche die gesamte Anlage versorgen, in ihrem gemütlichen Aufenthaltsraum. Neben der gutbestückten Bar gibt es hier eine kleine Bibliotheks- und Lese-Ecke, einen Fernseh- und Video-Apparat und sogar einen Billardtisch. Für Freizeitbeschäftigung an langen Winterabenden ist gesorgt. An den Wänden hängen mehrere Fotos von Segelyachten, welche die Station in den letzten Jahren besucht haben, darunter auch eines von der Ketsch <em>Reindeer</em> aus Detroit. Eines ihrer Crewmitglieder, Susan Windheim, hat während ihres Aufenthalts das Hundepärchen Marilyn Monroe und Blacky so treffend in Haltung und Mimik porträtiert, daß ihre Zeichnung schließlich als Postkarte in Dänemark gedruckt worden ist und nun mit dem Stempel der Station verschenkt oder verkauft wird.
Über die Geschichte der Station erfahren wir, daß Hell’s Corner bis in die 40er Jahre den Amerikanern als Frühwarnanlage diente. Damals lag die Station unten neben der Pier, wo jetzt nur noch die Vorratslager stehen. In den 60er Jahren war sie – Ursache unbekannt – ausgebrannt. Hauptsächlich des Schnees wegen, mit dem die Station auf dem früheren Standort im Winter stets zu kämpfen hatte, wurde sie anschließend in ihrer jetzigen Form oben auf den Felsen neu erbaut.
Die jungen Leute – drei Installateure, ein Zimmermann und ein Koch – bleiben bis zu fünf Jahre auf der Station (bei nur einem jährlichen Freiflug und vier Wochen Dänemarkurlaub ist das eine lange Zeit in einer der einsamsten Ecken der Welt). „Aber danach hat man dann auch einige Kronen auf der hohen Kante“, erklärt uns der Installateur Freddy. „Die Bezahlung ist gut, und ausgeben kann man hier nichts.“ Bei ihm, so meint er zuversichtlich, wird das Ersparte vielleicht sogar reichen, um anschließend ein eigenes kleines Geschäft in Dänemark aufzumachen.
Ein Boot bringt einmal im Monat Frischverpflegung und Post. In Notfällen kann telefonisch ein Schiff oder sogar ein Helikopter angefordert werden, der etwa einen Kranken oder Verunglückten zur ärztlichen Versorgung ins Krankenhaus fliegt.
Am nächsten Morgen sind wir zu dänischem Smørrebrod eingeladen, mit herrlich duftendem Filterkaffee und Eiern, die gerade erst von den stationseigenen Hennen gelegt worden sind. Sie werden – neben ein paar Tauben – in einem infrarotbeheizten Freiluftgehege gehalten, liebevoll betreut und natürlich niemals geschlachtet. Als ich sie fröhlich im Mist scharren sehe, muß ich daran denken, daß sie bestimmt lieber in Grönland frieren, als bei uns in Legehennen-Batterien dahinzuvegetieren.
Der Chef der Station erzählt auf Folkmars Frage nach Eisbären, daß vor zwei Jahren ein Bär mit Treibeis an der Küste heruntergekommen sei. Da er die Leute auf der Station gefährdete, mußte er schließlich erlegt werden. Eisbären sollen auf diese Art übrigens häufiger nach Südgrönland gelangen, wo sie dann in Schafherden einbrechen.
Wir führen einige Telefonate nach Hause, um unseren baldigen Aufbruch nach Island anzukündigen, und holen letzte Auskünfte beim Eiswarndienst in Narsarsuaq ein, wobei wir auch erfahren, daß der Scoresby-Sund, den wir nach Island besuchen wollen, zur Zeit immer noch vom Eis versperrt ist. Dann heißt es Abschied nehmen von dieser Station, die uns mit ihrer gemütlichen und freundlichen Atmosphäre in eisiger Umgebung stark an die Palmer-Station in der Antarktis erinnert hat. Vor fünf Jahren sind wir dort auf etwa gleicher, allerdings südlicher Breite genauso gastlich und herzlich aufgenommen worden.
Freddy und die beiden Schlittenhunde begleiten uns hinunter zur Pier, wo im Vorratslager ein riesiges Proviantpaket auf uns wartet. „It’s like Christmas“, bedankt sich Erich bei Freddy, als wir die vielen, liebevoll ausgesuchten dänischen Köstlichkeiten verstauen. Mit dieser Verproviantierung steht die Freydis-Kombüse nun einer Gourmetküche in nichts mehr nach.
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