Dienstag, 22.12.2015 :: La Palma
(Joseph Conrad)
Noch immer keine Delphine und Wale zu sehen. Seit den Kapverden halte ich vergeblich Ausschau. Das Meer leer, eine Wasserwüste ohne Leben, so scheint es. Erich hat den Riss im defekten Auspuffsystem endlich gefunden und versucht ihn abzudichten.
Den Qualm im Schiffsinneren haben wir gründlich satt. Überhaupt diese verflixten Mallungen, das ewige, eintönige Motoren. Was ist schon ein Segelschiff ohne Wind? – Weder Fisch noch Fleisch!
Nach fünf Tagen Grau in Grau, Dauerregen, dampfender Waschküche und übelkeitserregendem Seegang endlich ein Zipfelchen des ersehnten Passats! Wie zwei Lungenflügel, die tief durchatmen, blähen sich die Schmetterlingssegel befreit im Wind und die Freydis nimmt Fahrt auf. „Zu Peter und Paul“ ruft Erich so fröhlich, als wären das unsere liebsten Freunde und nicht nur karge Felsen im Atlantik, die wir da ansteuern. Mit dem Wind kommt auch die gute Laune und der durch die Seekrankheit gebremste Appetit zurück. Ruhig und wie geschmiert gleitet unser Schiff über die Wellen. Während Erich die Segel trimmt, haue ich blasse Kapverdeneier in die Pfanne, säble ein Stück vom kanarischen Ziegenkäse ab und fische ein paar Gurken aus dem Glas. „Die Sauregurkenzeit der Mallungen scheint nun endgültig vorbei“ tönt Erich ausgelassen durchs Schiff und es klingt, als verkünde ein Muezzin das Ende der Fastenzeit.
Aber schon in der Nacht läßt unser Schmetterling seine Flügel wieder hängen, der Wind schläft wieder ein. Wolkenwalzen und Regen rollen über uns hinweg. Einige Wolkenfetzen scheinen ins Meer zu fallen. Ein riesiger Heckfänger hält uns in Atem, immer wieder fährt er auf Kollisionskurs, dreht erst kurz davor ab und geht hinter unserem Heck durch.
„Das sind die Kerle, die die Meere leerfischen“ ärgere ich mich, „die fahren so lange rum, bis sie volle Ladung haben, gnadenlos, denen entkommt kein Fisch!“ Erich ist schwer am rödeln, während ich die Signalpistole bereit lege, für den Fall, daß er sich noch einmal so gefahrbringend nähert. Offensichtlich haben wir aber nun „sein“ Revier verlassen und er zeigt Einsicht (falls man das so nennen will).
Während meiner Nachtwache kriechen schwarze spinnenartige Wolkenungeheuer über den Himmel und fressen den Mond auf – gespenstisch! Plötzlich schießt etwas Dunkles übers Deckshaus direkt auf mich zu. Bevor ich mich in Sicherheit bringen kann, bekomme ich einen so derben Schlag gegen die Stirn, daß mir für kurze Zeit Sehen und Hören vergeht. Der Kamikazeflieger, ein Prachtexemplar von Fliegendem Fisch, hat den Zusammenstoß nicht überlebt. Am Morgen wandert er in die Pfanne und ich laufe mit einem dicken Horn auf der Stirn herum.
Gleichzeitig mit dem Skipper erwacht auch der Passatwind – die zwei wissen, was sich gehört! Am Himmel nun die typischen Passatwolken, von unten sehen sie aus wie auf einem Glastablett servierte Sahnehäufchen. Unser GPS zeigt noch 150 Meilen bis zum Ziel an. Wir können es kaum noch erwarten. Vor zehn Jahren, auf unserer ersten Reise mit der Freydis nach Südamerika, waren wir an Peter und Paul vorbeigesegelt. Damals hielten wir uns streng an die Empfehlungen des „Ocean Passages of the World“, diesen Segelanweisungen aus der Zeit der Rahsegler, nach denen man auch heute noch Kurse absteckt und in denen so unwirtliche Inseln wie diese natürlich gemieden werden. Aber diesmal wollen wir das entlegene Eiland, das sich als Gipfel eines gigantischen untermeerischen Gebirges – des mittelatlantischen Rückens – über den Meeresspiegel erhebt, auf jeden Fall besuchen, fiebern ihm geradezu entgegen. Ich frage mich, was uns eigentlich an diesen paar lächerlichen Vulkanfelsen im Meer fasziniert? Nur das bekannt Entdeckungsfieber? Die Freude und Genugtuung, aus eigener Kraft etwas Ersehntes zu erreichen? Etwas, was einem bisher verborgen und unbekannt war, zu Gesicht zu bekommen? Die Einmaligkeit des Ortes? Eines Ortes, an dem es aber doch nur Steine, Vögel, Spinnen und Krebse gibt, heute nicht anders als zu Darwins Zeiten, der auf seiner Reise um die Welt in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts schon so darüber berichtet:
„Bei der Fahrt über den Atlantischen Ozean legten wir am Morgen dicht bei der Insel St. Peter und Paul bei. Diese Gruppe von Felsen ist 540 Meilen von der Küste von Amerika und 350 von der Insel Fernando de Noronha entfernt. Der höchste Punkt liegt nur fünfzig Fuß über dem Meeresspiegel, und der ganze Umfang ist nicht ganz eine Dreiviertelmeile. Dieser kleine Punkt steigt ganz plötzlich aus den Tiefen des Ozeans heraus.Die Felsen erscheinen aus der Entfernung von glänzend weißer Färbung. Dies kommt zum Teil von den Exkrementen einer ungeheuren Menge von Seevögeln her, zum Teil von einem Überzug einer harten glänzenden perlmuttartigen Substanz, welche fest mit der Oberfläche der Felsen verbunden ist.
Wir fanden auf der Insel nur zwei Vogelarten – den Tölpel und die Seeschwalbe. Beide sind zahm und so wenig daran gewöhnt, Besucher zu sehen, daß ich eine beliebige Zahl mit einem geologischen Hammer hätte töten können. Es amüsierte mich, zu beobachten, mit welcher Geschwindigkeit eine große behende Krabbe, welche die Felsspalten bewohnt, den Fisch von der Seite eines Nestes wegstahl… Nicht eine Pflanze, nicht einmal eine Flechte wächst auf dieser Insel, und doch wird sie von mehreren Insekten und Spinnen bewohnt.”
Nur noch dreißig Meilen. Erich schaut immer wieder nervös aufs Radar „diese zwanzig Meter hohen Felsen im Ozean, das ist wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchen.“ Als ich etwas später auf dem Vordeck Ausschau halte, entdecke ich zwei kleine weiße Spitzen genau voraus. „Ich sehe was, was Du nicht siehst juble ich übermütig. Erich sieht’s jetzt auch, nimmt das Glas zu Hilfe. „Ein Dampfer mit weißen Aufbauten“, behauptet er grinsend. „Ja, richtig“, freue ich mich, nun selbst durchs Fernglas schauend, „ich kann sogar seinen Namen erkennen, da steht Peter und Paul“.
Wir nähern uns einem nach Nordwesten offenen, hufeisenförmigen Kranz aus Lavafelsen, deren guanobedeckte Spitzen leuchtend weiß aus dem dunkelblauen Meer ragen. Eine unglaubliche Erscheinung, die Erich zum Seemannsgarn-Spinnen anregt: „Da kann mich keiner von abhalten, mit den Skiern auf dem Buckel die Gipfel (20 Meter!) zu stürmen und dann im Schuß die Guanopisten runterzurasen”, lacht er unternehmungslustig. Aber erst einmal vollführen wir Bärentänze auf dem brennend heißen Vordeck, als wir die Segel bergen. Bevor wir ankern, wollen wir uns diesen seltsamen Ort, der eher einem überdimensionalen, karieszerfressenen Gebiss ähnelt denn einer Insel, in Ruhe ganz aus der Nähe anschauen. Aber Ruhe suchen wir dort vergebens. Vor der Insel steht ein so gewaltiger Strom, eine so hohe Brandung, daß wir große Mühe haben, nicht abgetrieben zu werden. Kein Wunder, diese Insel „ist ja nichts weiter als der Gipfel eines Berges”, noch dazu eines so steil abfallenden, daß er die Strömung des Südost-Passates aufstaut und ablenkt.
Draußen vor der Insel ankern und dann mit dem Dingi anlanden ist wegen des Stromes nicht möglich. Der Einlaß in die Bucht ist aber nur etwa so breit wie eine Schiffslänge. Wie da bloß bei dieser bewegten See hineinkommen? Außerdem scheint man drinnen auch nicht gerade sicher zu liegen, ganz im Gegenteil. Also bestimmt kein Plätzchen für eine geruhsame Nacht.
Sollen wir aufgeben? Den Landgang einfach streichen? Kommt nicht in Frage, zu sehr und zu lange haben wir uns auf diese widerspenstig-unwirtliche Insel gefreut (seltsam sind sie schon, unsere Gelüste). Wir wollen wenigstens versuchen, für ein paar Stunden an Land zu gehen und Aufnahmen von den zahllosen, überall auf den Felsvorsprüngen sitzenden Vögeln zu machen, die uns jetzt neugierig beobachten. Wir entscheiden uns mit voller Motorkraft durch das Nadelöhr zu preschen. Ein riskanter Balanceakt, ein Gefühl wie es ein Seiltänzer haben muß: einen Schritt daneben, und… – Aber es glückt.
Die Minibucht bietet nur einen sehr unvollkommenen Schutz gegen die brandende Windsee. Sie ist gerade so groß, daß sich die Freydis darin drehen kann. Wie in einem schaukelnden Kessel schwappt das Wasser in dem Büchtlein hin und her, kreuz und quer und über den Rand. In unregelmäßigen Abständen stürzen Wasserkaskaden durch die mehr oder weniger breiten Lücken des zerfressenen Gebisses. Ein äußerst unruhiger Ort mit einem Schwell, der die Freydis zwei Meter hoch katapultiert, wieder absenkt und dabei mal nach rechts, mal nach links gegen blinde Klippen treibt. Wir ankern in Luv, können aber kaum Kette stecken, alles viel zu winzig. Der Anker bricht deshalb immer wieder aus. Erich, der ihn jedesmal wieder über Hand hochholen und neu ausbringen muß – die Handankerwinsch ist defekt – hat eine Heidenarbeit. Für mich am Steuer bedeutet das Jonglieren zwischen Scilla und Charybdis eine üble Angstpartie. Immer wieder versetzen uns die, in ihrer Stärke und Richtung unberechenbaren Wasserkräfte bedrohlich nahe an die Felsen heran.
Zweimal kann ich eine Grundberührung nicht verhindern, glücklicherweise nur mit dem Drehkiel. Um einigermaßen sicher zu liegen, müßten wir Leinen ausbringen, die wir an den Felsen vertäuen. Aber dazu bräuchte man mehr als nur vier Hände, nur zu zweit geht da gar nichts. Zu all unseren Mühen lacht sich die Äquatorsonne eins und verbrennt dabei unbarmherzig unsere schweißnasse Haut. Auch das Gebiss scheint hämisch zu grinsen, als wir schließlich, schweren Herzens aufgeben und Kurs nehmen auf Fernando de Noronha. Was für eine Enttäuschung! Während ich ganz froh bin, diesem Gierschlund so schadlos entkommen zu sein, ist Erich erschöpft und fühlt sich niedergeschlagen, um den ersehnten und verdienten Landgang geprellt. Erst als die Felsen achtern im Dunst verschwinden, wird er wieder ansprechbar. Da wird aus dem Verschwinden ein Verzeihen und Vergessen.