Porträt über Heide und Erich in der Zeitschrift GEO SAISON, Mai 2000
Man spürt es: Heide und Erich Wilts sind anders. Seit zehn Jahren leben sie auf See. Immer zusammen, immer ein Team. Extreme Abenteuer haben das Ehepaar geprägt.
Ein Jubiläumsbericht.
Andreas Wenderoth: DIE UNENDLICHE REISE
Manche sagen, sie wollen es oder träumen davon. Und im Grunde könnten es viele. „Aber richtig wollen, ist etwas anderes“, sagt Heide Wilts: Sie hätten es gewollt. Es war diese Kraft, die in ihnen reifte, bis es nichts mehr gab, das sich ihr in den Weg stellen konnte. Nicht ihre gut bezahlten Jobs, die praktisch unkündbar waren, nicht die Warnungen von Freunden und Eltern. Mit 50 haben sie aufgehört zu arbeiten, weil da am Horizont ein neues Leben auf sie wartete. Mit 50 haben sie hingeworfen, um endlich anzufangen.
„Es ist ein Lebensplan, der sich vollzieht“, sagt Heide Wilts und glaubt, die ganz großen Dinge im Leben entscheidet man sowieso nicht selbst. Vielleicht also war es solch ein höherer Plan, der die junge Medizinalassistentin im Sommer 1969 an den Strand von Norderney führte. Vergeblich hatte sie nach Muscheln gesucht, als ein junger Mann aus seiner Jolle stieg und ihr an Stelle dessen einen Schnuller überreichte. „Darf es auch so was sein?“ Obwohl sie es nicht wollte, musste Heide lachen und fünf Minuten später war sie auf seinem Schiff. Dort trank sie dann von diesem starken ostfriesischen Tee, den sie eigentlich nicht mochte, und blieb bei dem Mann, der so viel vom Segeln sprach, dass irgendwann sie es war, die vorschlug, sie müssten nun ein größeres Boot bauen.
„Freydis“. Der Name stammt aus der Wikingersaga. Freydis war die Tochter des Grönland-Entdeckers Erik der Rote und die erste Frau, die als Haupt einer Expedition den Atlantik überquerte. Freydis, was klang da nicht alles mit? Freydis, das stand, wie Heide Wilts sagt, für Freiheit und Freitag, den Tag also, der vor dem Wochenende kommt. Der Name für ihr Schiff war wohlüberlegt. 15 Meter wurde es lang, hatte für alle Fälle eine verstärkte 20 Millimeter dicke Stahlbodenplatte bekommen, einen Kiel zum Hochwinden, und noch ein paar andere Feinheiten, die sie für Reisen rüstete, dorthin, wo normale Segelboote in der Regel versagten.
Seit 1990 ist das Ehepaar Wilts fast ständig auf See. Sie waren die ersten Deutschen, die in die Antarktis gesegelt sind und weltweit die Zweiten, die bei ihrer Antarktis-Umrundung die einzelnen Inseln anliefen. Sieben Jahre lang haben sie dazu gebraucht – für 45.000 Meilen. Heide hat nie die Leute verstanden, die einmal die Erde umsegelt haben und dann plötzlich aufhörten. „Prima“, sagt sie immer, „dann kann man doch gleich wieder los“. Vielleicht ist das der Grund, dass sie die Erde – gemessen an der Zahl der gesegelten Meilen – inzwischen schon ein dutzendmal umrundet haben. In ein paar Wochen wollen sie erneut aufbrechen. Es ist nur ein kurzes Atemholen, eine Zwischenstation, die sie sich gegönnt haben in ihrem Cuxhavener Haus. Und sie dient ausschließlich der Vorbereitung der nächsten Reise.
Erich Wilts ist ein Bär von einem Mann. Der Händedruck des dreifachen Hamburger Judomeisters erinnert an die Szene aus dem Film „Der Seewolf“, in der Raimund Harmsdorf eine rohe Kartoffel in der Faust zerdrückt. Durch den dichten Vollbart blicken stählerne, von der Wache auf See geschulte Augen. Neben ihm, in den Bildern früherer Reisen blätternd, sitzt seine Frau, eine zierliche, wenn auch drahtige Person und erklärt mit sanfter Stimme, dass sie in diesem Haus nie findet, wonach sie sucht. Weil sie sowohl auf Reisen wie auch hier zum größten Teil aus Koffern leben. Wenn die Wilts´ auf dem Sofa ihres Cuxhavener Hauses sitzen, wirken sie fast ein bisschen wie Schiffbrüchige. Es scheint, als wäre es der feste Boden unter den Füßen, der ihnen ungewohnt ist.
Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da wurde Erich Wilts „extrem“ seekrank. „Aber Nelson war es auch“, sagt er. Inzwischen sei es etwas besser geworden. Früher hat er oft Blut erbrochen, weil die Speiseröhre Risse bekam. Das ist das Stadium, in dem der Wunsch reifen kann, über Bord zu springen. Aber was anderen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lust am Segeln genommen hätte, hat Wilts nie ernsthaft irritiert. Wenn Erich in der ersten Zeit seekrank wurde, hatte seine Frau immer Angst, er falle aus, „so dass meine eigene Seekrankheit durch den Adrenalinschub dann sofort vorbei war“. Jedenfalls solange, bis er wieder in Ordnung war. Dann fing es bei ihr wieder an. Dieses Wechselspiel hat sich erhalten.
Vor drei Jahren in der Südsee bekam er das Dengue-Fieber, und einmal ist er schwer an Malaria erkrankt, Wilts blickt zu seiner Frau. „Da hat sie gedacht, ich nipple ab.“ Trotz Prophylaxe, die hat nichts genutzt. Er konnte schon nicht mehr sprechen. Ins Krankenhaus war zu kompliziert, und außerdem: „Da bekommt er dann eventuell noch Hepatitis.“ Also hat sie ihn an Bord gepflegt. Zwei Tage hat sie ihm noch gegeben – aus ärztlicher Sicht. „Jetzt kannst du nur noch beten“, hat sie gesagt. Das hat dann auch geholfen.
Direkt unter dem Balkon ihres Hauses ist eine Anlegestelle, die sie noch nie benutzt haben, weil das Schiff dauernd in der Welt unterwegs ist und Cuxhaven denkbar ungeeignet ist als Ausgangsort für Reisen, wie sie ihnen vorschweben.
Im Moment liegt die „Freydis“ in Townsville, Ostaustralien. Die letzte Tour war anstrengend: Vorweg 12.000 Seemeilen vom Kap Hoorn nach Neukaledonien. Dort nahmen sie das erste von drei GEO-Teams an Bord. Nach viermonatiger Expedition durch die Inselwelt Melanesiens ging in Papua-Neuguinea der letzte GEO-Reporter von Bord. Wieder allein, segelten die Wilts´ drei Wochen an der australischen Küste entlang und brachten das Schiff in den hurrikansicheren Hafen, wo sie es für seinen neuen Einsatz gründlich überholen müssen. Derzeit sind die Wilts´ in Cuxhaven mit den Vorbereitungen zu der Tour beschäftigt, die sie über das Great Barrier Reef, durch die Torresstrasse nach Darwin und später von dort über den Indischen Ozean nach Südafrika führen soll. Wenn sie dann von Kapstadt aus die lange Heimreise in die Nordsee hinter sich haben werden, wird die „Freydis“ vielleicht in Cuxhaven ankern.
Lange vor ihrem Entschluss, ihre Berufe aufzugeben, hatten sie gemerkt, dass ein Dreiwochenurlaub keine Entschädigung ist für das, „was vorher ein halbes Jahr verloren ging.“ Heide Wilts war Ärztin für Allgemeinmedizin und Radiologie und arbeitete als Oberärztin an einer Klinik. Sie hat ihren Beruf sehr gern gehabt und übt ihn in gewisser Weise auch heute noch aus. Sie kuriert sich, ihren Mann, die Crew, wenn sie Leute mitnehmen, oder die Menschen, die ihr unterwegs auf ihren Reisen begegnen. „Ich schau mir überall die Kranken an.“ Als Erich Wilts kündigte, war er Geschäftsführer einer großen Firma für Einkauf und Marketing. Anders als seine Frau hatte er sich in seinem Beruf immer weniger zu Hause gefühlt. Um Prozente feilschen und Provisionen, Einkaufsmacht nutzen, um die Lieferanten zu drücken, während „menschliche Aspekte verloren gingen.“ Wieso eigentlich hatte er das so lange gemacht?
Am Anfang, sagte Heide, war es jene Mischung aus Abenteuerlust und Neugier, die den Menschen zum Entdecker macht. Heute sei es mehr die Liebe zur Natur insgesamt. Die Tiere, die man kennen lernt. Das Schwimmen mit den Delphinen. Wenn die Robben unter einem wegtauchen. „Dass man neben Albatrossen sitzen kann, die noch nie einen Menschen gesehen haben.“ Dass es möglich ist, Tieren „ohne Feindbild“ zu begegnen, weil sie noch keine schlechten Erfahrungen mit den Menschen haben. „Heide hat ein Feeling für die Tiere“, sagt ihr Mann.
Einmal, irgendwo auf einer kleinen antarktischen Insel, sitzt sie auf einem Walskelett und ist seltsam traurig, dass die Tiere sich nicht für sie interessieren. Plötzlich löst sich ein Königspinguin aus der Kolonie und kommt sehr langsam näher. Da hat sie „diese tollen bernsteinfarbenen Augen zum ersten Mal“ ganz nahe gesehen. Der Pinguin zupft mit dem Schnabel an ihr herum und marschiert irgendwann weg. Aber dann kommt er unerwartet zurück und legt ihr einen Stein vor die Füße. Das Zeichen, dass es Zeit für den Nestbau sei. Ein Hochzeitsgeschenk von einem Pinguin. „Das hat mich sehr berührt.“
„Bei Erich war es mehr das Sportliche“. Der Reiz, Inseln zu entdecken, deren Boden über die Jahrtausende höchstens eine Handvoll Menschen betreten hatte. Dieses wunderbare Gefühl, wenn man irgendwo zwischen den Riffen hindurch doch eine Stelle entdeckt, an der man ankern kann. Wenn man auf einer Insel steht, wo einst vielleicht auch James Cook vorbeikam, auf der Suche nach dem Südland, das es nicht gab. „Man fühlt sich schon ein bisschen wie ein Entdecker.“ Auch wenn alles bereits entdeckt ist.
Heide Wilts zeigt auf das Regal an der Wand: Pottwahlzähne, seltene Muscheln, Versteinerungen von Haifischwirbeln und –zähnen, die sie an den Stränden gesammelt hat, Millionen Jahre alt. Wenn sie so etwas in der Hand hält, sieht sie die Bilder vor sich, sieht Geschichte noch einmal entstehen. „Wie die gekämpft haben. Wer da wen gefressen hat.“ Sie könne sich schon vorstellen, wie Darwin begonnen habe nachzudenken.
Was unterscheidet die Wilts´ von anderen Seglern? In erster Linie, sagt Wilts, „dass Segeln für die meisten eine bestimmte Art der Urlaubsgestaltung ist.“ In Griechenland oder der Karibik eine schmucke Yacht chartern, nach einem ausgiebigen Frühstück zum nächsten Hafen segeln und dort ein schönes Lokal ansteuern. Irgendwann gehen diese Menschen wieder aufs Schiff, vielleicht baden sie noch ein wenig und nehmen ein paar Drinks. „Können wir das nicht auch so machen?“, fragt Heide und lacht. Doch dies ist nicht die Wiltsche Vorstellung von einem Segeltörn. Während viele Segler nicht einmal wissen, wie man eine Nacht durchsegelt, segeln sie große Strecken am Stück, manchmal sehen sie bis zu sechs Wochen lang nur Wasser. Am Morgen sind sie übernächtigt. Und dort wo sie aussteigen, wird man nass, denn es gibt keine Häfen. Dafür aber Fliegen, die beißen und die so klein sind, dass man sie nicht sieht. „Das Paradies hat seine Höllen“, sagt Heide Wilts.
Einige haben sie kennen gelernt. Die Geschichten der Wilts´ erzählen von unvergesslichen Anblicken, Sternstunden, aber auch von Todesangst, Stürmen und Seebeben. „Es ist nicht wie dauernd Ferien machen, sondern ein ziemlich hartes Leben.“ Man trage viel Verantwortung. Wenn etwas Ernsthaftes passieren würde, wissen sie nicht, ob sie dann weitermachen würden. Aber war es etwa nicht ernsthaft, was ihnen bisher passierte?
Auf den im südlichsten Teil des Indischen Ozeans gelegenen Crozet-Inseln hatten sie eine einigermaßen geschützte Bucht gefunden, aber die Brandung war eigentlich zu stark, um an Land zu gehen. „Bitte geh nicht“, sagt Heide. Erich macht es trotzdem. Mit einem Alpinistenseil erklimmt er die steile Felswand. Aber dann dreht der Wind in die Bucht, es wurde kälter, die Brandung immer höher. „Wir andern zogen die Überlebensanzüge an.“ Erich kann nicht mehr zurück, und sie nicht zu ihm. Er sieht die brenzlige Situation der andern, aber kann nicht helfen. Wenn sie zerschmettert werden, wird er auf der Insel sterben, es gibt hier niemanden. An Bord machen sie ihr Testament. Niemand mag reden, niemand essen. Trotzdem versucht Heide zu kochen, nur um irgendetwas zu tun. Die Brandung wird immer stärker. In der Nacht hält die Ankerkette dem Druck nicht mehr stand und bricht. Jetzt ist die Gefahr groß, dass das Boot gegen die Felswand prallt. Doch der Reserveanker hält und ein schweres Algenfeld, das der Himmel schickt, wirkt wie eine Feder und bremst das Schiff. Nach langen Stunden dreht der Wind. „In so einer Situation würden wir uns nicht mehr trennen.“
Oder die Sache auf Stewart Island im Süden Neuseelands, als sie eine kleine Bucht auf der Ostseite der Insel für einigermaßen geschützt halten. Aber bei den Fischern heißt die Insel „The Rock“, etliche Boote sind dort bereits zerschellt, weil der Wind urplötzlich gedreht hat. Sie gehen dennoch an Land. „Es war vor allem mein Drängen“, sagt Erich. Wenn das Beiboot einen Riss bekommt, können sie nicht wieder zurück. Es gibt sehr viele Haie, und das Wasser ist zu kalt. Aber davon wollen sie in diesem Moment nichts wissen. Plötzlich werden die Wellen höher, und als sie versuchen, zurück zu kehren, wirft sie ein gewaltiger Brecher aus dem Beiboot. „Heide wollte nicht mehr.“ Aber auf der „Freydis“ sind nur zwei unerfahrene Segler zurückgeblieben. Er brüllt sie an: „Heide, du musst“, denn es kann ja nur schlimmer werden. „Aber paddeln sie mal, wenn sie Angst haben.“ Noch ein paar Mal fliegen sie aus dem Boot. Irgendwann schaffen sie es.
Nein, sie seien nicht scharf auf die Gefahr, aber: „Man nimmt das in Kauf.“ Sie seien „keine Selbstmörder“, sagen die Wilts´. „Wir lieben das Leben.“ Aber um das Schöne zu erfahren, sind sie bereit, sich auch weniger Schönem auszusetzen. „Es gibt soviel Positives, dass man das Negative schluckt.“ Und letztlich, sagt Wilts, komme die Gefahr doch immer von dort, wo man sie nicht ahnt. Nach der letzten Reise hat er bei strömendem Regen auf der Autobahn bei Tempo 120 ein Rad verloren. „Das wäre wirklich ein blöder Tod gewesen.“
Es ist immer derselbe Traum, der Heide Wilts auf See verfolgt. Immer wird Erich überfallen, und sie kann nicht rechtzeitig helfen. Sie hört das Brüllen der Wellen. Und dann stellt sich heraus, dass es von Löwen stammt, die ihren Mann angreifen. Manchmal sind es auch Bären. Sie hat den Finger am Abzug, aber wegen der Kälte ist er eingefroren. In ihren Träumen kann sie ihren Mann nie retten.
In der Wirklichkeit bisher immer. Einmal, vor Sala y Gomez in der Nähe der Osterinsel, hatten Fischer sie gewarnt: „Da gibt es hervorragenden Thunfisch, aber ihr kriegt ihn nicht.“ Weil ihn die Haie vorher haben. „Das ist bestimmt übertrieben“, hat Erich gedacht. Aber als sie am Nachmittag in einer kleinen Bucht Essensreste über Bord kippten, hat Heide zufällig gesehen, dass unter dem Boot „ein Hai an dem andern“ war. Eigentlich wollten sie gerade schwimmen gehen. „Da hätten wir alt ausgesehen“, sagt Erich. „Oder dünn“, ergänzt Heide.
„In Krisensituationen hat sie die besseren Nerven“, sagt Erich, „da ist sie plötzlich eiskalt.“ Vorher mache sie ja „viel Zirkus“ aber wenn es darauf ankommt… „Wenn ich voll dahinter stehe, kann ich die Angst wegschieben“, erklärt Heide: „Mein Leben geht doch vor. Erich sei etwas leichtsinniger, habe so einen jungenhaften Übermut.“ Sie ist es, die bremst, wenn es Not tut. „Haarscharf ist mir eben zu eng“, sagt Heide. „Deswegen hat er mich auch geheiratet – damit er nicht ins Verderben gerät.“ „Ich höre in solchen Momenten auch auf sie“, sagt Erich.
Wie man über einen so langen Zeitraum auf See mehr oder weniger allein mit seiner Frau verbringen kann, werde er öfter gefragt. „Es ist doch gut“, sagt Erich, und dass sie die gleichen Ziele hätten. Was ihr am wichtigsten ist? „Mein Mann und das Zusammenleben mit ihm.“ Denn, sagt sie, wenn sie ihm nicht erzählen könnte von den Wundern der Natur, wenn sie ihre Empfindungen nicht teilen könnte, wäre doch etwas von dieser Schönheit verloren.
In der Antarktis gilt es, bestimmte Regeln zu befolgen. Das Eis immer an einer Seite liegengelassen, immer an den Kanten lang. Aber was, wenn wie auf ihrer letzten Reise, plötzlich das Eis auch auf der anderen Seite erscheint, und fünf Meilen weiter vorne und dann auch hinten, wenn plötzlich über Eis ist, das Eis sie umzingelt, die Sicht schwächer und das Risiko eines Wassereinbruchs immer höher wird? Wilts erklärt mit nüchternen Worten, was dann passiert: „Das Boot wird so leicht zerquetscht wie eine Coladose.“ Wie durch ein Wunder finden sie dann doch einen Weg aus dem Eis.
An jenem schwarzen Freitag im Mai vor acht Jahren gibt es keinen Ausweg mehr. Als die größten Strapazen ihrer Reise durch die gefährlichsten Segelreviere der Welt eigentlich überstanden scheinen und sie den Naturhafen der Insel „Deception“ ansteuern, auf der ihre Überwinterung in der Antarktis geplant ist, überrascht sie der Orkan. Innerhalb von zehn Minuten sacken die Temperaturen. Sie stranden. Schwere Brecher heben das Schiff in die Höhe und lassen es wieder herab krachen. Wasser dringt ein. Mit dem Abpumpen kommen sie nicht nach. 15 Stunden probieren sie den Aufstand gegen die Natur – und verlieren den Kampf. „Wir müssen das Boot verlassen, wenn wir nicht erfrieren wollen“, sagt Erich. Aber Heide hat „quasi schon abgeschlossen“. „Ich war sicher, dass ich sterben würde.“ Das Heck ist bereits unter einem Eiswall begraben, Stalaktiten hängen überall von der Decke herab. Sie springen ins Wasser, 30 Meter bis zum Ufer. Sie erreichen die rettende Station.
Einen Tag später ist der Orkan vorbei. Aber was ist aus ihrem Boot geworden? Ein riesiger Eisblock liegt vor ihnen, ein gestrandetes Schiff, in grotesker Schräglage, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Das Schiff ist versichert, aber trotzdem ist es „als wenn ein geliebter Mensch gestorben wäre. Ich habe nie gewusst, dass ich so eine Beziehung zu dem Schiff hatte“, sagt Erich. Tagelang läuft er wie in Trance umher. Sie hacken Eis und schöpfen Wasser und irgendwann auch die Hoffnung, das Boot vielleicht doch wieder flott zu kriegen. Die Erfrierungen bemerken sie erst später. Es gelingt ihnen, das Boot leer zu pumpen, abzudichten und provisorisch zu reparieren. Sechs Monate später löst sich auch das Eis des Kratersees, und die schon tot gesagte „Freydis“ schwimmt. Als sogar der Motor, der bei der Strandung unter Eis und Salzwasser war, wieder anspringt, können sie es kaum fassen. „Manchmal denke ich, unser Glücktopf ist langsam erschöpft.“
Welche Erkenntnis ziehen sie aus all ihren Reisen? „Die zivile Welt kommt uns nicht mehr so interessant vor.“ Jede Form von Überheblichkeitsgefühlen ist unangemessen. Nein, sie fühlten sich nicht als Naturbeherrscher, dafür sei ihre Ehrfurcht zu groß. In der Antarktis hat der Mensch den Tieren nichts voraus. Dort ist er nicht die Krone der Schöpfung, sondern „nur ein lebendes Wesen auf der Erde, das sich genauso durchschlagen muss wie alle anderen Kreaturen.“ Und vieles könne man von ihnen lernen.
Inmitten einer riesigen Albatroskolonie auf den Falklands lief am Rande einer Schneise, die die Vögel zum Starten und Landen freihalten, ein Albatros mit gebrochenem Flügel. Sein Partner lief hinter ihm, zupfte und säubert ihn. Hinter beiden schritten zwei Skuas, große Raubmöwen, wie böse Geister, dem Todgeweihten auf der Spur. „Es war ein Leichenzug“, sagt Heide. Je schlechter es dem Albatros ging, desto näher kamen die Möwen. Der Albatros hatte sich abgewandt von seinen Artgenossen, und die andern mieden ihn, weil es sinnlos war, sich dem Tod in den Weg zu stellen. Der Tod hatte eine große Normalität, niemand lehnte sich gegen ihn auf.
So wie ein Albatros würde sie gerne sterben.
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